Sie haben mich verkauft
Blutstropfen sammelten sich darum herum. Von wem war das Blut?
Ich fasste mir an den Rücken, und als ich die Hand wieder vorzog, sah ich einen dunkelroten Fleck. Ich fiel zu Boden und schrie, mein Atem ging stoßweise. Sergej regte sich nicht, er stand da, beugte sich über mich, und Verwirrung und Furcht waren ihm ins Gesicht geschrieben. Ich lag auf dem Boden und bewegte mich nicht.
»Das war das letzte Mal«, zischte ich, als ich zu ihm aufsah. »Ich gehe zur Polizei.«
Aber wir wussten beide, dass ich das nicht tun würde. Das hatte ich so oft schon bei meinen Eltern erlebt. Ich wusste, die Polizei konnte mir weder eine Wohnung noch Geld für Lebensmittel geben, also wieso sollte ich dort um Hilfe bitten?
Sergej bückte sich und legte die Arme um mich. »Es tut mir leid, Oxana«, wimmerte er. »Das wollte ich nicht, es tut mir leid. Es ist nur ein Kratzer, keine Sorge. Ich mache dir die Wunde sauber.«
Aber ich schwieg, als der Mut, der mich erfüllt hatte, aus mir herausfloss wie das Blut aus der Wunde. Als ich in Sergejs Augen schaute, sah ich nur Dunkelheit. Jetzt gehörte ich ihm. Er hatte mich besiegt. Endlich wusste ich, es gab keine Grenzen bei dem, was er mit mir tun konnte. Heute mochte das Messer sein Ziel verfehlt haben, aber nächstes Mal würde es anders ausgehen.
Ich hätte am liebsten geschrien, als Pascha weinte – ein hohes, dünnes Wimmern, das er den ganzen Tag schon von sich gegeben hatte.
»Scht«, sagte ich und beugte mich vor, um ihn aus seinem Bettchen zu nehmen.
Ich hatte Bauchkrämpfe vor Angst und Ärger. Bald wäre Sergej zu Hause, und er würde mich anbrüllen, wenn Pascha nicht ruhig war. Sein Hass auf seinen Sohn – und auf mich – war in den Wochen seit der Nacht, in der er mich mit dem Messer angegriffen hatte, nur schlimmer geworden. Ich war nach dem Streit nicht ins Krankenhaus gegangen, und die Verletzung hatte eine dünne weiße Narbe hinterlassen, die sich über meinen Rücken schlängelte.
Mir blieb nichts weiter als ein Leben im Schatten, immer in der Hoffnung, dass ich Sergej nicht wieder verärgerte, denn weglaufen konnte ich nicht. Jeden Tag fragte mich Sergej, ob ich ihn noch liebte, und blieb immer in meiner Nähe, um sicherzugehen, dass ich nicht wieder weglief. Dabei hatte ich nicht vor wegzulaufen. Früher hätte ich zu meinem Vater gekonnt, jetzt gab es niemanden mehr, also wohin sollte ich gehen? Sergej hatte gezeigt, wozu er fähig war, und ich fühltemich machtloser denn je. Ich konnte nur noch darauf hoffen, dass sich die Dinge eines Tages änderten.
Als ich Pascha wieder hochnahm, dachte ich an das, was der Arzt vor etlichen Wochen gesagt hatte. Wir hatten bald wieder einen Termin bei ihm, aber meinem Sohn ging es immer noch nicht besser, egal wie sehr ich mich bemühte, ihn zum Milchtrinken zu bewegen. Je mehr ich über das Waisenhaus nachdachte, desto häufiger fragte ich mich, ob es nicht womöglich wirklich besser wäre, ihn dorthin zu geben. Meine Nachbarin Janna, die mir manchmal Lebensmittel schenkte, wenn ich keine hatte, der Arzt und Mama hatten mir alle gesagt, es wäre das Richtige; da könne man sich anständig um das Baby kümmern. Alle sagten dasselbe, und tief in meinem Innern wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde Pascha für die Dauer von sechs Monaten ins Waisenhaus geben, genug Zeit für mich, um einen Job zu finden und jemanden, der sich um Sascha kümmerte, wenn ich bei der Arbeit war. Dann ginge es Pascha gut genug, und ich könnte ihn nach Hause holen.
Sergej freute sich so sehr, als ich ihm am Abend meinen Entschluss mitteilte.
»Endlich wirst du vernünftig«, sagte er lächelnd.
Es mochte ja die richtige Entscheidung sein, aber ich war so traurig, als ich am nächsten Tag Paschas wenige Sachen in eine Tasche packte. Würde er mir je verzeihen? Ich hatte im Grunde nicht gelernt, ihn richtig zu lieben, und jetzt schickte ich ihn fort.
»Er kriegt die Operation, die er braucht«, sagte die Leiterin des Waisenhauses am nächsten Tag zu mir, als sie ihn mir abnahm. »Wir päppeln ihn auf und sorgen dafür, dass er zu Kräften kommt.«
»Aber wann kann ich ihn denn sehen?«, fragte ich.
»Wann immer Sie wollen, aber die meisten Eltern kommen am Wochenende.«
»Dann mache ich das auch so.«
Pascha wirkte so alt, als er zu mir hochschaute. Er war ein ernsthafter Junge, der fast nie lächelte.
»Soll ich ihn nehmen?«, fragte die Leiterin und kam auf mich zu.
Ein Schmerz machte sich in meiner Brust bemerkbar,
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