Sie haben mich verkauft
selber bemitleiden, wo du doch drei Kinder hast, die dich brauchen?«
Sie schob mich vor einen Spiegel. Eine Fremde starrte mich an. Die Frau, die ich sah, war dünn und bleich und hatte schwarze Ringe unter den Augen. Sie sah so alt aus, ich erkannte sie gar nicht. Sicher hatte sie nicht die Kraft für das, was vor ihr lag.
Ich fing an zu weinen.
»Du musst stark sein, Oxana«, sagte Ira sanft. »Du hast keine andere Wahl.«
Da wies mich Jannas Freundin Klawa auf eine Möglichkeit zur Selbsthilfe hin, als sie mir einen kleinen Krug Fleisch in Aspik zeigte. Klawa war Lehrerin gewesen, aber sie hatte mit dem Trinken angefangen, als sie ihre Stelle verloren hatte, denn wenn man in der Ukraine seine Arbeit verliert, verliert man auch alle Menschen um sich herum. Jetzt war sie einsam und alt, und ihr einziger Trost war die Wodkaflasche.
»Wo kommt das denn her?«, fragte ich, als ich den teuer aussehenden Krug in der Hand hielt.
»Aus dem Abfall.«
»Was?«
»Aus dem Abfall. Den durchsuche ich nach Essbarem.«
Ich starrte sie an. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Menschen so etwas taten. Ich hatte höchstens mal Zigarettenstummel von der Straße aufgesammelt und die Tabakreste in Zeitungspapier gewickelt, wenn ich rauchen wollte.
»Du machst dir keinen Begriff davon, was die Leute alles wegwerfen«, erzählte mir Klawa. »Päckchen mit Grütze,Marmelade, die erst ein paar Tage über dem Haltbarkeitsdatum ist ... Einmal habe ich sogar roten Kaviar gefunden.«
Mir drehte sich der Magen um, als ich den Krug betrachtete.
»Mach mal auf«, sagte Klawa. »Wirst schon sehen, das ist vollkommen in Ordnung.«
Also tat ich es, und sie hatte recht. Danach ging ich zusammen mit ihr auf die Suche; die Scham verdrängte ich. Papa hätte Verständnis für das, was ich tat. Wir mussten essen. Was machte es mir schon aus, wenn mich einer sah? Ich durchwühlte den Abfall und fand bald eine noch ungeöffnete Dose mit Reisfleisch.
»Dahinten gibt es noch mehr«, kicherte Klawa, als sie hörte, wie ich keuchen musste, um die Übelkeit wieder runterzuwürgen. »Die Leute wissen, dass wir kommen, und lassen Lebensmittel da, von denen sie glauben, dass wir sie wollen. Aber die haben keine Ahnung, was wir tatsächlich mitnehmen.«
Ich ging zu den Mülltonnen weiter hinten und sah auf dem Boden ein paar Kartons und Tüten. Ich kniete mich hin und nahm etwas hoch – eine kleine Pappschachtel, wahrscheinlich mit Grütze. Dann griff ich in einen Müllsack und zog ein Stück Toastbrot heraus. Der ganze Sack musste voll davon sein! Ich könnte mir ein paar Brühwürfel besorgen und Suppe für die Kinder machen. Davon hätten wir tagelang zu essen. Pures Glück durchströmte mich. Später, zu Hause, sah ich, wie sich winzige weiße Maden in dem Brot kringelten, und einen Moment lang ekelte mich das – dann nahm ich mir ein Messer und kratzte die Maden raus. Solch einen Fund konnte ich nicht umkommen lassen. Ich probierte etwas von dem Reisfleisch aus der Dose, dann verdünnte ich es mit Wasser und machte Suppe daraus. Wenn ich am nächsten Morgen nicht krank war, konnte ich den Kindern davon geben.
»Mehr, Mama, mehr«, sagte Sascha immer wieder, als ich ihn tags darauf fütterte.
Es lässt sich nur schwer beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man das eigene Kind, das vorher immer Hunger hatte, mit gefülltem Bauch sieht.
Das Essen, das ich in den Mülltonnen fand, hielt uns ein paar Wochen lang am Leben, bis ich auf einem Armeestützpunkt eine Stelle als Putzfrau fand. Ich war so glücklich, dreißig Dollar im Monat würde ich verdienen – genug, dass wir dreimal am Tag zu essen hatten –, aber die Stelle anzunehmen hieß auch, dass ich die Kinder allein zu Hause lassen musste. Ich sagte mir, dass ich nicht ewig auf Mülltonnen und Freunde vertrauen konnte, aber die nächsten fünf Monate lag die Angst in meinem Bauch wie eine schlafende Schlange, wann immer ich das Haus verließ.
Bald erklärte mir der Oberst, der mir die Stelle gegeben hatte, er könne mir keinen Lohn ausbezahlen, weil keiner in der Armee Geld bekam. Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine war immer noch sehr angespannt, also gab er mir zehn Dollar, wann immer es möglich war – genug, dass wir uns eine Weile ernähren konnten. Aber dann kam ich eines Tages nach Hause und musste feststellen, dass Luda einen schrecklichen Unfall gehabt hatte. Sascha hatte ein kleines elektrisches Heizöfchen hervorgeholt, das ich im Winter benutzt hatte, denn ihm
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