Sie haben mich verkauft
griff in ihre Manteltasche und reichte mir zwei Plastiktüten. »Da, binde dir das um die Hände«, sagte sie, während sie mit den Armen in die Mülltonne neben mir fuhr.
Es war ungefähr elf Uhr abends, und alles war still im Reichenviertel von Simferopol, wohin wir gekommen waren, um nach Lebensmitteln zu suchen. Die Kinder hatte ich schlafen gelegt, und Bilder von ihren Gesichtern gingen mir durch den Kopf, als ich nach unten sah. Ich packte ein verwesendes Stück Fleisch, warf es zur Seite und fing an zu suchen. Ich musste etwas zu essen finden. Seit Wochen hatten wir kaumetwas gegessen, und jetzt hatte ich Angst, wir würden verhungern, wenn ich nichts unternahm.
Gleich nachdem sie Sergej verurteilt hatten, kam Ira zu mir und erklärte besorgt, sie könne mich nicht länger für die Blumen bezahlen, die ich nähte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Wir machen keine Hochzeitskleider mehr, damit verdienen wir nicht genug. Du musst dir etwas anderes suchen.«
»Aber was soll ich denn machen?«, fragte ich verzweifelt. »Ich muss mich um die Kinder kümmern, ich kann nicht zum Arbeiten aus dem Haus!«
»Vielleicht braucht dich ja ein anderer Schneider für Hochzeitskleider«, schlug sie vor, aber ohne große Hoffnung. Wir wussten beide keinen, der Blumen nähen lassen wollte. »Du kannst so lange hier wohnen bleiben, wie es sein muss«, fügte sie hinzu. »Und ich tue, was ich kann, und helfe dir weiterhin. Aber du weißt ja, wie es ist, wir alle haben es schwer, vor allem, weil ich ja noch Vica unterstütze.«
»Ich weiß.« Ich nickte. »Und danke, Ira.«
Aber als sie ging, war ich verzweifelt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Lebensunterhalt für uns verdienen sollte. Ohne Mann, so schlimm der auch sein mochte, war ich in einer furchtbaren Lage. Ich war vollkommen hilflos.
Als ich mein letztes bisschen Geld aufgebraucht hatte, war ich gezwungen, bei Nachbarn und Freunden betteln zu gehen. Ira, Marina und Janna taten, was sie konnten, aber wenn sie mir morgens ein Stück Brot gaben, konnte ich abends ja nicht schon wieder hingehen, auch wenn die Kinder Hunger hatten. Es brachte mich fast um, Pascha zu sehen, der gerade angefangen hatte zu laufen, mit seinem aufgetriebenen Leib und den winzigen, schwachen Beinen, oder Sascha zu hören, der vor Hunger weinte. An manchen Tagen hatte ich nur heißes Wasser für sie mit darin eingeweichten Brotbröckchen oder gebratene Stückchen Schweinefett, das Marinas Mutter mirgab. Aber wenigstens hatte ich noch genug Milch und konnte Luda stillen. Es war schlimm für mich, die ganze Zeit Freunde um Hilfe bitten zu müssen, also ging ich manchmal Mama besuchen. Aber was auch immer an Zuneigung sie je für mich empfunden hatte, war inzwischen durch ihre Liebe zum Wodka ersetzt worden, und sie hatte regelrecht Spaß daran, wenn sie mich um eine halbe Kartoffel betteln ließ. Ich ging nach Hause mit den paar Brocken, die sie mir gegeben hatte, und weinte heiße, wütende Tränen. Wie konnte sie ihrer eigenen Tochter und ihren Enkelkindern die Hilfe verweigern? Ich wusste, dass ich selber meiner Luda nie etwas zu essen vorenthalten und dass ich noch mit einem hungrigen Hund meine Lebensmittel teilen würde.
Eines Tages war ich so verzweifelt, dass ich nur noch alles vergessen wollte. Ich ließ die Kinder bei Ira und holte mir eine Flasche Wodka von Janna. Ich hatte sonst nie mehr als ein oder zwei Gläser getrunken, aber schon oft hatte ich gesehen, was der Alkohol bewirken konnte. Er schien meine Mutter trotz ihrer erbärmlichen Existenz glücklich zu machen – vielleicht würde er mir ja genauso helfen. Glas um Glas brannte er sich seinen Weg in meine Brust, als ich versuchte, vor meinem Leben davonzulaufen.
Ira fand mich total betrunken, den Kopf hatte ich auf den Tisch gestützt, reden konnte ich kaum noch.
»Was machst du denn da, Oxana?«, schrie sie, offensichtlich entsetzt. »In was für einem Zustand bist du denn bloß? Meinst du, ich kümmere mich um deine Kinder, während du dich so zudröhnst? Das ist doch keine Lösung, das solltest gerade du inzwischen wissen.«
»Lass mich einfach in Ruhe«, lallte ich und drehte mich weg von ihr.
»Du musst damit aufhören«, sagte sie wütend. »So kannst du nicht weitermachen, das geht einfach nicht! Was für eineMutter bist du denn? Sergej mag ja weg sein, aber deine Kinder sind immer noch hier.«
»Hau ab!«
»Nein!«, schrie Ira und fing an, mich durchs Zimmer zu zerren. »Wie kannst du nur hier sitzen und dich
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