Sie haben mich verkauft
war kalt gewesen, und Luda war daraufgefallen. Sie hatte zwei feuerrote Brandmale auf dem Popo, die Narben hinterließen, als sie abgeheilt waren, und ich wusste, dass ich nicht mehr zur Arbeit gehen konnte.
Ich kämpfte ums Überleben und machte mir Sorgen um meine Kinder und dachte an das Leben, das ich ihnen nicht bieten konnte. Wenigstens einen vollen Bauch und ein schönes Zuhause sollten sie haben. Sascha war inzwischen viereinhalbund spielte den ganzen Tag draußen; er mochte Autos und Flugzeuge und war immer fröhlich, während Luda, die gerade anderthalb war und herumtapste, ihren Bruder anbetete und ihr Bestes tat, um mit ihm mitzuhalten. Sie war wie ich – eine Kämpfernatur. Pascha war immer noch anders. Während seine Geschwister blond waren, war er dunkel; während sie rosige Wangen hatten, füllten seine riesigen Augen das bleiche Gesicht. Er war immer noch schwach, und obwohl er fast drei Jahre alt war, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Er war ein schwieriges Kind und brauchte besondere Fürsorge, und das zu einer Zeit, in der allein schon das Überleben all meine Kraft in Anspruch nahm. Ich versuchte, Geduld mit ihm zu haben.
Dann brachte ich Pascha eines Tages zum Arzt, und endlich erfuhren wir, was mit ihm nicht stimmte: Er war taub. Das erklärte alles – die Tatsache, dass er nicht sprach und wie ein Tier stöhnte und kreischte, wenn er in seinem Bettchen lag. Ich hatte solch ein schlechtes Gewissen, weil ich das nicht gemerkt hatte. Sein Verhalten hatte mich verärgert, und manchmal hätte ich am liebsten geschrien, wenn er dalag und mit dem Kopf gegen das Bett stieß oder mit einem Spielzeug an die Gitterstäbe schlug. Jetzt wusste ich, dass er das tat, weil er in einer eigenen, seltsamen und stillen Welt eingeschlossen war, und das würde so bleiben, bis er im Alter von vier Jahren in eine Sonderschule für taube Kinder käme. Ich schämte mich so, weil ich ihn wieder einmal im Stich gelassen hatte. War er meinetwegen taub? Schließlich hatte ich ja versucht, ihn abzutreiben, als er noch in meiner Gebärmutter gewesen war. Konnte ich das je wieder an ihm gutmachen? Für ein Kind wie Pascha war das Leben in der Ukraine sehr schwer, und ich machte mir große Sorgen um seine Zukunft, aber wie ich ihm helfen könnte, wusste ich auch nicht. Natürlich kannte ich ihn gut genug, um zu verstehen, wann er Hunger hatteoder müde war, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen, konnte ihm keine Lieder vorsingen und ihn auch nicht mit besänftigenden Worten beruhigen, und da war keiner, der mir dabei half, seine Behinderung zu verstehen. Es war, als stünde ich an dem einen Ufer eines Flusses und mein Sohn am anderen Ufer, während das Wasser zwischen uns dahinströmte.
Wenn ich doch nur mehr Geld hätte, dachte ich, dann könnte ich ihm und meinen anderen beiden Kindern ein besseres Leben bieten. Vielleicht mit einem anständigen Dach über dem Kopf und ordentlichem Essen auf dem Tisch ... Dann wäre ich wenigstens eine richtige Mutter, besonders für den kleinen Pascha, der mich so sehr brauchte.
Zehn Monate, nachdem Sergej ins Gefängnis gekommen war, kehrte meine Nachbarin Yula aus dem Ausland zurück, wo sie gearbeitet hatte. Sie war geschieden, und ihre Eltern hatten sich während ihrer Abwesenheit um ihre Kinder gekümmert. Jetzt war sie mit Geld zurückgekommen, und alle waren beeindruckt von dem neuen Kühlschrank und dem Fernseher, mit denen sie angab. Aber mich interessierten nicht ihre neuen Sachen – mich interessierte ihr Gesicht. Sie war geschminkt, hatte sich die Haare gefärbt, und in ihren Augen lag ein Blick, der sagte, dass das Geld ihr plötzlich einen eigenen Platz in der Welt erkauft hatte.
Pausenlos stellte ich Yula Fragen, wollte wissen, wo sie gewesen war, was sie gemacht hatte, doch sie erzählte nicht viel. Aber ich wollte alles wissen, weil ich gehört hatte, sie habe in einer Fabrik in der Türkei gearbeitet und manchmal in der Woche zweihundert Dollar verdient. Das konnte ich kaum glauben. Ich hatte immer gewusst, dass die Türkei nahe bei Europa mit all den reichen Ländern lag, aber wie es dort zuging, wusste ich nicht. Kein Wunder, dass Yula so verändert aussah.
Wieder und wieder sann ich darüber nach. Nachts lag ich im Bett und dachte an die verrottenden Mülleimer, die hungrigen Gesichter meiner Kinder und unser eisiges, kahles Zimmer. War es das, worauf ich gewartet hatte – ein Ausweg aus diesem schrecklichen Leben? Wenn Yula das schaffte, wieso
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