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Sie haben mich verkauft

Sie haben mich verkauft

Titel: Sie haben mich verkauft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Kalemi
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ich sie aus meinen Gedanken. Vielleicht hatte sie ja etwas zu verbergen, vielleicht hatte sie wirklich nicht in einer Fabrik gearbeitet. Ich war jedenfalls heilfroh, dass ich nicht dasselbe machen musste und endlich auf eine richtige Zukunft hinarbeitete.
    Genia war zweiunddreißig, elf Jahre älter als ich, und wurde für mich so etwas wie eine Mutter. Sie war gut organisiert und tüchtig, sie war groß und schlank und hatte blondgefärbte Haare, eine lange, gerade Nase und blaue Augen. Nach ihrer Scheidung war sie aus Moldawien zum Arbeiten in die Türkei gekommen. Daheim kümmerten sich jetzt ihre Eltern um ihren Sohn, während sie ihr eigenes Geld verdiente, denn sie wollte ihrer Familie auf Dauer keine Last sein. Wie ich träumte sie davon, eines Tages ein Haus zu besitzen, wo sie mit ihrem Kind leben konnte.
    Bald verlief mein Leben nach einem festen Muster, und ich war froh, dass ich Woche für Woche mein Geld verdiente. Für sechzig Dollar die Woche arbeitete ich zwölf Stunden am Tag, das waren zweihundertvierzig Dollar im Monat – hundertfünfzig Dollar schickte ich Ira, fünfzig Dollar kostete die Miete, und weitere vierzig Dollar brauchte ich zum Leben. Ich wusste, ich sollte allmählich anfangen, etwas mehr zu sparen, aber zunächst brauchten meine Kinder Dinge wie Kleidung, ordentliche Lederschuhe, Heizöfen für unser Zimmer und Bettwäsche.
    Doch nichts hatte mich darauf vorbereitet, wie sehr ich Sascha, Pascha und Luda vermissen würde. Ständig kamenmir Gedanken an die drei in den Sinn und vergingen wieder, wie Libellen, die ins Wasser tauchen – wenn ich aß, überlegte ich, was sie an dem Tag wohl zu essen hatten; wenn ich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen sah, stellte ich mir den Klang ihres Lachens vor –, und jeden Morgen machte ich die Augen auf und spürte tief in mir schmerzlich die Sehnsucht nach ihnen.
    »Wann kommst du nach Hause, Mama?«, fragte mich Sascha immer wieder am Telefon, und ich versuchte, fröhlich zu klingen, wenn ich ihm sagte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Wenn ich Pascha und Luda im Hintergrund plappern hörte, wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen.
    Manchmal weinte ich, wenn ich durch die Straßen spazierte und jüngere Kinder sah, die arbeiteten, statt in die Schule zu gehen. Ihr Anblick machte mich ganz traurig, und mit ihren dunklen Haaren und Augen erinnerten sie mich so sehr an Pascha. Von den dreien beschäftigte er mich in Gedanken ganz besonders. Ich wusste, er brauchte mich am meisten und würde es im Leben am schwersten haben. So gern wollte ich bei ihm sein, ihm durch seine schweren Zeiten helfen.
    Wenn ich um meine Kinder weinte, saß Genia oft bei mir.
    »Du musst durchhalten. Sie brauchen dich«, sagte sie dann immer. »Jetzt beruhige dich und versuche, dich auszuruhen. Sonst wirst du nur noch krank. Und was würdest du deinen Kindern dann nützen?«
    Die Wochen vergingen, und ich akzeptierte allmählich mein neues Leben und entdeckte allerlei Neues. Ich ging in einen Nachtklub, kaufte mir neue Kleider, schminkte mich zum ersten Mal, zupfte mir die Augenbrauen und ließ mir die Haare schneiden. Als ich nach drei Monaten in der Türkei – im Juni 1997 – für zwei Wochen auf Besuch nach Hause fuhr, sahen alle an meinem Lederrock und den Schuhen, wie gut es mir ging. Ich freute mich so auf die Kinder, brachte ihnenneue Kleider und Spielsachen mit – all die Dinge, die ich ihnen schon immer hatte schenken wollen, was früher aber nicht möglich gewesen war. Das machte mich so glücklich, und vor allem freute ich mich, Pascha wiederzusehen. Ich hatte ihn so vermisst, und während meines Urlaubs verbrachten wir viel Zeit miteinander.
    Ich wollte zu Yula und ihr tüchtig die Meinung sagen, weil sie mich über ihre Arbeit in der Türkei belogen hatte, aber sie war nicht da. Ihre Eltern sagten, sie arbeite wieder im Ausland, also zuckte ich mit den Schultern und ging nach Hause zurück. Sie hatten ja keine Ahnung, wie ihre Tochter wirklich war.
    Eines Abends, als wir nach dem Essen am Küchentisch saßen, sprach Ira mit mir über die Kinder.
    »Es macht mir ja nichts aus, mich um Sascha und Luda zu kümmern«, sagte sie. »Es sind reizende Kinder, und sie verstehen sich auch gut mit Vica. Die bemuttert sie richtig gern. Genug Geld schickst du mir ja auch. Aber mit Pascha, das ist wirklich was anderes.«
    »Was meinst du damit?«, fragte ich in Panik.
    »Er ist einfach zu schwierig«, sagte sie. »Er ist eben nicht wie die beiden anderen.

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