Sie haben mich verkauft
tatsächlich begonnen hatte.
Ein paar Stunden später kam der Mann wieder und warf das Oberteil eines schwarzen Trainingsanzugs für mich aufs Bett. Ich trug eine schwarze Hose und hochhackige Schuhe, und er legte den Finger an die Lippen und wies mich an, die Jacke anzuziehen und meine Sachen zu nehmen. Offenbar ging es weiter mit unserer Reise. Ich nahm meinen kostbaren Koffer und hielt mich bereit, ihm zu folgen. Der Mann schien nervös, als er uns aus dem Raum führte und wir auf eine Straße hinaustraten. Obwohl es sehr dunkel war, erkannte ich, dass wir uns offenbar am Rand eines Dorfes befanden, denn als wir an ein paar Häusern vorbeigingen, sahen wir Nebengebäude und Scheunen voller Heu und Sonnenblumen. Der Mann zwang uns, sehr schnell zu gehen, fast zu laufen, und von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um zu horchen. Seine Nervosität steckte mich an – ich lief, wenn er lief, blieb stehen, wenn er stehen blieb, und als wir auf freiem Feld waren, schien es, als blieben wir gar nicht mehr stehen. Mein Koffer war klein, aber wie ich ihn so mit mir schleppte, wurde er allmählich ganz schwer;doch unter gar keinen Umständen hätte ich ihn zurückgelassen. Bald wurde mir klar, dass ich auf meinen hochhackigen Schuhen nicht würde Schritt halten können, also zog ich sie aus. Ich lief barfuß weiter und spürte, wie das feuchte Gras wie Messer in meine Schienbeine schnitt, während sich Steine und Wurzeln in meine Fußsohlen gruben. Aber ich fühlte keinen Schmerz – ich hörte nur mein Blut in den Ohren rauschen, als ich vor meinem Feind davonrannte.
Es kam mir so vor, als wären Stunden vergangen, als ein Stacheldrahtzaun uns den Weg versperrte. Die Nervosität des Mannes schien ihren Höhepunkt zu erreichen, und ich ahnte, dass dies die Grenze sein musste, vermutlich die Grenze zu Serbien. Er hielt den Draht für uns hoch, als Anna-Maria und ich unsere Taschen hindurchschoben und dann hinterherkrochen. Als wir drei sicher auf der anderen Seite des Zauns angelangt waren, führte er uns ein paar Meter weit weg, und wir setzten uns im Dunkeln, hielten den Atem an und gaben unserer Erschöpfung nach. Unser Begleiter setzte sich mit gekreuzten Beinen neben uns; immer noch war er wachsam und hielt die Pistole fest umklammert, als er sich in der Nacht umschaute.
Dann erfüllten plötzlich ein Schrei und ein Krachen die Luft. Ich sah auf in den Himmel und erkannte, was das plötzliche Geräusch verursacht hatte, als der Mann aufsprang.
»Lauft!«, rief er, zerrte uns hoch und setzte sich in Bewegung.
Wieder hörte ich ein Krachen und begriff, dass es ein Schuss war. Ich drückte mir den Koffer vor die Brust und wollte hastig hinter unserem Führer herlaufen, aber Panik stieg in mir auf, und ich strauchelte. Anna-Maria streckte die Hand aus, um mir aufzuhelfen, als die Kugeln um uns durch die Luft flogen und ein helles Licht über unseren Köpfen kreiste. Ich hatte keine Ahnung, wo das Licht herkam, blieb allerdingsauch nicht stehen, um mich umzudrehen. Anna-Maria war so schnell, so stark, und ich stolperte hinter ihr her und versuchte, mit ihr Schritt zu halten.
Im Laufen sah ich die Gesichter meiner Kinder. Ich musste leben.
Wir kamen an ein Sonnenblumenfeld, wo wir uns auf den Boden warfen, wenn das Licht über uns hinwegfegte, und standen wieder auf, sobald das Licht sich weiterbewegte. Die Sonnenblumen zerkratzten mir das Gesicht, als ich zwischen ihnen hindurchrannte, und das Gewicht meines Koffers ließ mich beinahe das Gleichgewicht verlieren.
Schüsse peitschten durch die Luft, während das Licht uns umkreiste, und mein Herz schlug rasend. Ich dachte an gar nichts mehr, sondern lief einfach nur; verzweifelt floh ich vor den Schüssen, und es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich endlich sah, wie der Himmel sich aufhellte. Ich rannte zur anderen Seite des Feldes und merkte auf einmal, dass sich die Geräusche entfernten, und schließlich verfielen wir in eine Art Trott, dann ins Gehen, bis wir zu einer Baumreihe kamen, wo wir uns hinsetzten.
Keiner sagte ein Wort während unserer Rast. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber ich schätzte, es musste Serbien sein. Dies war die nächste Etappe einer Reise, deren Ende ich nicht abzusehen wagte.
KAPITEL 16
M eine Pupillen weiteten sich, als der Bodyguard den Raum betrat. Minuten zuvor hatte ich versucht, das Fenster zu öffnen, und fragte mich nun, ob er das wohl gehört hatte.
»Wir können abhauen«, hatte ich Anna-Maria zugeflüstert.
Weitere Kostenlose Bücher