Sie haben sich aber gut gehalten!
leider ist das nach wie vor ungelöst.
Aber spätestens heute Abend bin ich sie los, tröste ich mich, als ich mich aus den Laken schäle. Und wenn ich sie höchstpersönlich zu Volker fahren muss. Soll sie doch in seiner Praxis schlafen, wenn ihr Sohn sie nicht in seiner Wohnung beherbergen will.
Meinen Kampfgeist bringe ich mit heiß-kaltem Duschen sowie der überfälligen Haarwäsche auf Trab. Anschließend föhne ich mein Haar und schlüpfe in meine besten dunkelblauen Jeans, eine hellblau-weiß gestreifte Bluse und flache Slipper. Ich stecke mir noch ein Paar rosa Perlenohrringe an, und fertig ist mein Outfit. Heute kann mich kein Überraschungsbesuch in Verlegenheit bringen. Vorsichtig schleiche ich dann die Treppen nach unten, damit Lotte nicht aufwacht.
Gestern Abend kam sie Punkt Mitternacht wie Cinderella nach Hause. Ich hab mich schlafend gestellt, weil ich mir nicht anhören wollte, was sie mit meinem Vater angestellt hat.
Während die Kaffeemaschine leise vor sich hin blubbert, massiere ich mir die Schläfen, um den stechenden Schmerz zu mildern und meine kleinen grauen Gehirnzellen zu aktivieren.
Wenn ich nur wüsste, warum Lotte so plötzlich hier aufgetaucht ist. Was sind das für mysteriöse Probleme, vor denen sie davonläuft? Ob der neue Liebhaber sie so tief enttäuscht hat? Auf mich wirkte sie gestern nicht wie eine Frau mit Liebeskummer.
Ich überlege weiter: Geldprobleme? Ob sie ihr Vermögen durchgebracht hat? Wird nicht allgemein behauptet, dass sich manche Eigenschaften im Alter noch verstärken? Und Lotte hatte doch noch nie ein Händchen fürs Finanzielle. Es sei denn, man zählt Geld-mit-beiden-Händen-aus-dem-Fenster-Werfen dazu.
Im nächsten Moment kommt mir ein anderer, noch viel erschreckender Gedanke in den Sinn.
Krankheit!
Ist Lotte vielleicht lebensbedrohlich erkrankt und sucht deshalb den Schutz der Familie? Das wäre durchaus möglich, bei ihrem wilden Leben. Immerhin ist sie über siebzig – das genaue Alter weiß nicht mal Volker. Vermutlich kennen das nur die Pass-Kontrolleure auf den Flughäfen dieser Welt.
Puh! Ich mag mir gar nicht vorstellen, was das bedeutet, wenn sie vorhat, ihre letzten Tage im Kreise ihrer Lieben zu verbringen. Dann ist der Hausverkauf gestorben. Wahrscheinlich verlangt sie stattdessen den Einbau eines Treppenlifts und Betreuung rund um die Uhr.
«Guten Morgen, Liebchen!», unterbricht eine fröhlich trällernde Stimme meine düsteren Überlegungen.
Wie ertappt zucke ich zusammen. Nein, krank ist sie nicht. Lotte überlebt uns wahrscheinlich alle.
«Gut geschlafen?», ringe ich mir eine höfliche Floskel ab und starre sie unverhohlen an.
Lottes Gesicht ist mit einer dicken weißen Schicht Creme bedeckt. In Kombination mit den pinkfarbenen Haaren und dem azurblauen Kaftan wirkt sie wie ein Clown auf der Suche nach Publikum. Das Gewand muss aus Tanger stammen. Denn genau so eines hat sie mir mal von einer Reise mitgebracht und verspätet zum Geburtstag geschenkt. Ihre Füße stecken in dicken froschgrünen Socken, und links blitzt durch ein Loch am großen Zeh ein rosa Nagel heraus.
«Das riecht herrlich, einfach herrlich!» Sie schnuppert in Richtung Kaffeemaschine. «Da komme ich ja genau richtig.»
Ich nehme einen der alten Kaffeebecher aus dem Küchenschrank (um den ich nicht weine, wenn er zerbricht). «Möchtest du eine Tasse mit auf dein Zimmer nehmen?», frage ich, um sie loszuwerden. Mir ist einfach noch nicht nach launigem Smalltalk mit einem Cremegesicht. Seit ich allein lebe, bin ich morgens ohnehin ziemlich einsilbig und schmökere gerne stundenlang in der Zeitung.
Statt einer Antwort sieht Lotte mich nur erwartungsvoll an. «Erst mal möchte ich dir das hier überreichen, Rosy», erklärt sie dann und zaubert aus ihrem Kaftan einen dicken, bauchigen Gartenzwerg mit grünem Wams und blauer Zipfelmütze. «Ich wollte ihn dir gestern schon geben, habe es aber vergessen. Dafür entschuldige ich mich in aller Form.» Sie hält mir den Zwerg hin. «Bitte schön. Für den Garten. Du verbringst doch immer so viele Stunden bei deinen Pflanzen.»
Ach, und dabei soll mir jetzt ein fetter Zwerg Gesellschaft leisten?, denke ich gehässig, sage aber nichts und verziehe nur gequält den Mund.
«Ich wusste, er würde dir gefallen!» Dann kramt Lotte noch einen blauen Flakon hervor. «Und noch ein Fläschchen Damascena-Rosenöl aus Bulgarien. Das beste Öl der Welt. Für einen Liter benötigt man vier Tonnen Rosenblätter», erklärt
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