'Sie können aber gut Deutsch'
Gebühren vor Anmeldungen nicht retten und führen seitenlange Wartelisten. Ein Auslandsjahr während der Schulzeit, ein weiteres im Studium gehören heutzutage im Bildungsmilieu zur Normalität. Mit der Begründung: Damit sie eine andere Sprache lernen, damit sie eine andere Kultur kennenlernen. Ein wunderbarer, lobenswerter Ansatz, der den meisten sicherlich guttut. Das alles kostet Geld, viel Geld zumeist.
Manche Eltern haben nicht das Geld, dafür aber das Glück, ihren Kindern von zuhause aus eine Sprache, die Kenntnisse über eine Kultur mitzugeben, die nicht diejenige
ist, auf die ihr Nachwuchs im Kindergarten, in der Schule, im Fußballverein trifft. Das ist ein Geschenk, ein großes Geschenk, sowohl für die Charakterbildung eines Menschen an sich, als auch insbesondere in unserer globalisierten Welt für die Zukunft. Warum aber erntet man in Deutschland mehr Bewunderung für einen Satz wie »Meine Tochter war ein halbes Jahr in Südamerika und hat dort Spanisch gelernt« als für den folgenden: »Mein Sohn spricht zuhause Türkisch, weil meine Familie aus Antalya kommt«?
Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Zeit in Kanada, wo es unter Studenten nichts Cooleres zu geben schien, als neben Englisch eine zusätzliche Sprache zu beherrschen. Wer nicht über diese Fähigkeit verfügte, griff auf seinen Stammbaum zurück und verwies darauf, dass seine oder ihre Großmutter ganz sicher aus Italien oder Polen oder Argentinien stammte. Ist es hier anders, weil wir – oder einige von uns – immer noch nicht zugeben wollen, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland ist, es schon war, bevor wir diesen Begriff so ausführlich auf sein Pro und Contra hin diskutierten? Wenn wir doch irgendwann zu dieser Einsicht gelangt sein werden, wird sie vielleicht – ein bisschen Optimismus schadet ja nicht – dazu führen, dass ein Kind, das mit seiner Großmutter, die es von der Schule abholt, nicht Deutsch spricht, sondern eine andere Sprache, nicht mehr skeptisch beäugt, sondern sogar ein wenig beneidet wird? Nicht, weil Neid ein positives, wünschenswertes Gefühl wäre, sondern weil sein Vorhandensein in diesem Zusammenhang die Einsicht demonstrieren würde, dass das Beherrschen einer weiteren Sprache etwas Wundervolles, Erstrebenswertes und eben Beneidenswertes ist. Unabhängig davon, ob sie bei einem teuer bezahlten Auslandsaufenthalt, in einer Privatschule, vom Aupair-Mädchen oder eben von der Großmutter auf dem Nachhauseweg
von der Schule erlernt wird. Nicht nur, weil sie einem im späteren Leben, im Beruf viele Türen öffnen werden, sondern auch deshalb, weil sie uns allen einen anderen, einen neuen Blickwinkel auf die Dinge ermöglichen. Nichts erleichtert mein Leben mehr, wenn ich in Sorge über etwas verfalle, mich in Gedanken hineinsteigere, als kurz aus meinem deutschen Ich hinaustreten zu können und die Situation aus einem russischen Blickwinkel heraus zu betrachten. Mich zum Beispiel ganz banal frage, ob ich noch einmal zum Supermarkt rennen soll, um Käse für die Gäste zu kaufen, den ich nach dem Essen servieren könnte, obwohl ich eigentlich keine Zeit dafür habe. Aus dem russischen Blickwinkel heraus aber spielt Käse keinerlei Rolle, erst recht nicht als ein Extra-Gang nach dem Nachtisch, serviert auf einem Extrateller mit nichts weiter als Weintrauben, um diesen im Übrigen noch nicht einmal ursprünglich deutschen Brauch auch mal mit russischen Augen zu beschreiben. Und sofort verfliegt der Stress, weil auch der Druck plötzlich so absurd erscheint, trotz Regens und Zeitmangels noch einmal wegen einer Käseauswahl das Haus verlassen zu müssen. Es ist ein banales Alltagsbeispiel, aber unser Leben besteht nun mal weitgehend aus banalem Alltag. Diesem mit zwei Sprachen und zwei Kulturen zu begegnen, ist eine Chance, ein Geschenk und eine Freude, die nicht dadurch gemindert wird, gemindert werden darf, dass diese zweite Sprache und Kultur einem von Kindesbeinen an, von den Eltern mitgegeben wurde, anstatt mühsam erlernt worden zu sein.
Lasst uns nicht vergessen, dieses Gefühl auch den Kindern zu vermitteln, nicht den problematischen Migrantenkindern, sondern Kindern, die eine Bereicherung für sich und andere in sich tragen. Und lasst uns abschließend, wenn es denn sein muss, auch Käse essen.
Das ungeplante Kapitel
Ein ungeplantes Kapitel ist so ähnlich wie ein ungeplantes Kind. Etwas passiert. Und plötzlich weiß man, dass sich so vieles geändert hat, noch mehr ändern wird,
Weitere Kostenlose Bücher