'Sie können aber gut Deutsch'
Sarrazins widersprachen. Sie passten mir besser in den Kram, aber ich hatte während des Studiums Statistik belegt und deshalb eine ungefähre Ahnung, wie sich Zahlen in unterschiedliche Richtungen interpretieren lassen. Also schwieg ich und hörte zu, bis sie sagte: »Ich persönlich sehe mich als Teil Deutschlands, so wie ich auch die anderen fünf Prozent Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund als Teil Deutschlands sehe, übrigens als einen sehr produktiven Teil Deutschlands, als Teil eines Deutschlands, das modern geworden ist, weltoffen, liebenswert. Liebenswert, wie unser Bundespräsident sagt, liebenswert durch die Vielfalt der Menschen. Und das möchte ich mir überhaupt nicht absprechen lassen. Ich empfinde mich als Teil dieses Landes, mein Deutschland möchte ich mir von Herrn Sarrazin nicht vermiesen lassen.« Und da sprang ich wieder sehr undeutsch-emotional auf und schrie: »Siehst du, siehst du, sie liebt dasselbe Deutschland wie ich! Die lebt auch in meinem Wir-Deutschland!« Woraufhin mein Mann sich abermals beschwerte, dass
er nichts von der Sendung mitbekomme, und Recht hatte er diesmal, denn wir verpassten den so großartigen Satz, mit dem Herr Beckmann die Zugeschaltete verabschiedete: »Frau Foroutan, herzlichen Dank. Zur Erklärung: Sie sind in Boppard am Rhein zur Welt gekommen. Vater ist Iraner, dann ging’s danach nach Teheran, mit zwölf Jahren sind Sie zurückgekommen.« Sollte heißen: »Liebe Zuschauer, wir haben übrigens eine Muslimin zugeschaltet. Leider habe ich vergessen, das vorher zu erwähnen.«
Später googelte ich und fand heraus, dass sie in einem Projekt namens »Heymat« forscht, in dem es um »Neue Deutsche« geht, womit Menschen mit Migrationshintergrund mit hybriden Identitäten gemeint sind. In den meisten Kommentaren kam dieses Projekt nicht gut weg, es wurde lächerlich gemacht, und die Zahlen, die Frau Foroutan präsentiert hatte, wurden von den meisten Medien in Frage gestellt.
Mir ging es nicht um die Zahlen, mir ging es um Gefühle. Die Zahlen, die Herr Sarrazin angeführt hatte, hatten Reaktionen ausgelöst, die mit den Zahlen selbst nichts mehr zu tun zu haben schienen. Je mehr ich in jenen Tagen und Wochen den Debattierenden und den zahlreichen Wortmeldungen zuhörte, desto unwohler fühlte ich mich, desto mehr ertappte ich mich dabei, mein eigenes Verhalten auf sein Deutschsein zu überprüfen – wie damals in der Pubertät. Ich las den Text eines Spiegel- Redakteurs mit pakistanischen Wurzeln, der im niedersächsischen Oldenburg zur Welt gekommen war. Der Text von Hasnain Kazim, der sehr persönlich, aber trotzdem sachlich daherkam, stellte die These auf, dass Deutschland seine Angst vor dem Fremden nicht loswürde. Der Autor beschrieb darin, dass er sich immer als Ausländer fühlen müsse in diesem Land. Ich stieß auf den Artikel, weil mehrere meiner Freunde mit Biographien, die meiner ähnlich waren, ihn unabhängig
voneinander auf ihren Facebook-Seiten gepostet hatten und kommentierten, sie würden seine Gefühle sehr gut nachvollziehen können.
Ich las: »In dieser Welt bleibt man als Nachfahre von Einwanderern immer der Türke, der Italiener oder, in meinem Fall, der Pakistaner oder der Inder. Und man gewöhnt sich daran, dass alle Jahre wieder gefordert wird, ›die Ausländer‹ sollten sich besser integrieren. Mal heißt es dann, sie sollen endlich die Sprache lernen, dann wieder eine ›Leitkultur‹ anerkennen. Mal sind sie kriminell oder jetzt sogar, und da muss man dann doch schlucken, genetisch irgendwie minderwertig. Man nimmt diesen Unsinn hin wie all das Gerede der Politiker. Und erwidert besser nichts, sonst gilt man als wehleidig. Kritisiert man doch, kommt sofort: ›Menschen wie Sie sind doch gar nicht gemeint!‹ Freundlichkeit klingt trotzdem anders.« In den zahlreichen Leserkommentaren, die dem Artikel folgten, las ich, er solle sich nicht so anstellen, nicht so eine Mimose sein, Menschen wie er seien doch gar nicht gemeint. Menschen wie er, die einen solchen Job beim Spiegel hatten; war das etwa Neid?
Wieso fühlten wir, Menschen wie er, uns aber gemeint?
Ich rief dann Naika Foroutan an, die ich in der Sendung von Reinhold Beckmann gesehen hatte, nicht, um mit ihr über Zahlen zu diskutieren, sondern um sie zu fragen, wie sie sich jetzt fühle. Sie zweifelte mittlerweile daran, dass das »Wir«, das sie weiterhin benutzte, noch dasselbe sei wie vor drei Wochen. Ob ihr deutsches »Wir« nicht zu einem migrantischen,
Weitere Kostenlose Bücher