'Sie können aber gut Deutsch'
als 2006, erzählt mir der deutsche Ausländer oder der ausländische Deutsche, wie er sich selbst nennt, der als Jugendlicher aus dem Libanon nach Deutschland kam und wahrscheinlich sein dankbarster Bürger ist. Wir sitzen draußen vor einer türkischen Bäckerei, die entweder ihm oder seinem Cousin oder seinem Nachbarn oder seinem Freund gehört, ich komme da durcheinander, weil hier alles »Freunden, Nachbarn, Cousins« gehört, und so, wie Youssef das sagt, klingt es, als seien sie alle eine große Neuköllner Familie.
Und apropos Neukölln. Neukölln ist seiner Meinung nach das Paradies. Hier leben alle zusammen, »Türken, Araber,
Deutsche, Spanier, jede Sprache wird benutzt.« Youssef spricht von »uns«, er meint damit alle, und wenn er was braucht, »dann schwöre ich, dann kommt Peter vom Schlüsselladen oder mein Freund aus dem Waschsalon und hilft. Wir sind wie Brüder.« Youssef sagt: »Für uns ist egal, ob du arabischer Deutscher oder türkischer Deutscher bist!« Er hat auch das Lied gedichtet »Wir sind deutsche Ausländer«, das auf YouTube zu sehen ist. Es heißt darin, »Wir sind deutsche Ausländer, wir leben schön miteinander. Lasst uns tanzen, lasst uns singen!« Vieles von dem, was er sagt, ist vielleicht grammatikalisch nicht korrekt, klingt aber so wunderschön und so sehr nach meinem Wir-Deutschland, dass ich kurz die Frage in meinem Kopf vergesse, was wohl die Menschen außerhalb Neuköllns von der Aussage halten würden, es gäbe »deutsche Deutsche und türkische Deutsche und arabische und russische und sonst-wie-Deutsche«, und sie alle seien gleich. Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob das alles angesichts der Sarrazin-Thesen, mehr noch angesichts der Reaktionen auf diese, nicht furchtbar naiv und optimistisch und realitätsfern ist. Nur, dass er tatsächlich, während wir da in der letzten Herbstsonne sitzen und türkischen Tee schlürfen, Vietnamesen auf Vietnamesisch begrüßt, einen Türken umarmt, mit dem Peter aus dem Schlüsselladen schnackt und vielen anderen Menschen, deren Herkunft ich nicht erkennen kann, zuwinkt. Und sie alle winken uns fröhlich zurück.
Und Sarrazins Thesen? Youssef ist beleidigt, sagt er, im Kopf notiere ich mir: Er ist verletzt. Ich mache das sonst nicht, hasse es, wenn Journalisten meinen, Gefühlsregungen interpretieren zu dürfen und zu können, aber er sieht verletzt aus, er sucht nach den richtigen Worten, und ich meine so viel von dem nachempfinden zu können, was er fühlt und was so viele andere Problembürger mit Migrationshintergrund und
schlechten Genen gerade fühlen, dass ich mir im Kopf notiere: Er ist verletzt. Weil Sarrazin all diese Menschen (»Migranten« darf ich als Begriff nicht benutzen, belehrt er mich, denn das sind »Deutsche«) beleidigt hat, die dieses Land lieben und respektieren und gerne hier leben und dafür dankbar sind. Was er dann sagt, würden Sarrazin und seine Anhänger und vielleicht sogar ein paar Parteien rechter Lager gerne hören: Er sagt, dass die Nicht-Integrierten auf dem falschen Weg seien, dass jeder, der hier lebe, diesem Land und seinen Gesetzen mit Respekt begegnen müsse, sonst gehöre er nicht hierher.
Er fasst zusammen: »Wenn jemand sagt, Deutschland ist scheiße, sage ich: Musst du weg!«
Ich kenne diese Argumentation von zuhause. Meine aus Russland eingewanderten Eltern, deren Deutschland hauptsächlich aus furchtbar netten gegen Fremdenfeindlichkeit demonstrierenden Lichterkettenteilnehmern besteht, halten mir des Öfteren Vorträge darüber, dass man Menschen, die nicht bereit sind, zum Wohlstand dieses Landes beizutragen (meine Formulierung), »sich anzupassen, denn nur Steuern zahlen reicht nicht« (Formulierung meiner Mutter), hier nicht dulden dürfe. Youssef Bassal und meine Eltern sagen das von ihrem hohen Ross der integrierten, der besseren Ausländer herunter. Vielleicht sagen sie es, um noch besser anzukommen oder um die folgenschwere Entscheidung ihrer Ausreise nicht in Frage stellen zu müssen. Aber sie sagen das mit einem starken Akzent, und ich frage mich, ob diejenigen, mit denen sie sich verbrüdern, sie für so integriert halten würden wie sie sich selbst.
Ich befürchte, die Antwort ist Nein.
Aber wenn ich das laut sage, schauen sie verletzt.
Ich verließ Youssef Bassal gut gelaunt und wieder optimistischer, dachte, ich ziehe nach Neukölln, dabei mag ich Berlin nicht so wahnsinnig gern.
Dann traf ich einen Freund, der ebenfalls in Neukölln lebt, aber, wie sich
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