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Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Titel: Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine Roux
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viel mehr solcher Geschichten von ihr, und in den meisten, wenn nicht in allen, geht es um das Terrorisieren der armen, einfältigen Praktikanten. »Raue Liebe« nennt sie das, was alle durchlaufen mussten, als sie jung und dumm waren und verzweifelt in die professionelle Welt vordringen wollten.
    »Meine Mutter hat sich an meinem Meerjungfraukostüm die Finger wund gebastelt«, erzähle ich und lege meine Füße auf das Armaturenbrett. »Sie war nicht gerade eine große Schneiderin, aber sie hat meine Erwartungen weit übertroffen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie verzweifelt ich war, weil in jenem Jahr vor Halloween ein derber Schneesturm stattfand. Mit der Schwanzflosse in einem halben Meter Schnee rumzuwatscheln war … Na ja, ich sah total bescheuert aus. Ich weiß noch, wie sie und ihr Freund mich die Treppe zum Nachbarhaus hochtragen mussten, damit ich Süßigkeiten bekam. Warum zur Hölle tun sie so was nur?«
    »Wer?«, fragt Ted. Er nimmt die Brille ab, um an dem Klebeband herumzufummeln, das sie zusammenhält. Egal, was er unternimmt, die Brille ist nicht zu retten.
    »Eltern. Sie sind so … wenn man bedenkt, dass sie mich jede einzelne Stufe hochtrug, und alles nur, weil ich mir das denkbar blödeste Kostüm ausgesucht hatte – eine Schwanzflosse … meine Güte. Und natürlich war das Ding am Ende des Abends komplett ruiniert, völlig aufgeweicht vom Schnee. Aber Mom war so dankbar, so glücklich mit mir, als ich ihr all die Süßigkeiten zeigte, die ich bekommen hatte. Ich wette, sie war auch total erschöpft, aber sie hat es nicht gezeigt, jedenfalls nicht vor mir.«
    »Machen wir das deshalb? Fahren wir nur nach Colorado, weil du dich schuldig fühlst, dass du dein Meerjungfraukostüm kaputtgemacht hast?«, fragt Renny grinsend.
    Da sie mich nur hochnehmen will, zucke ich die Achseln. »Vielleicht, vielleicht ist genau das der Grund.«
    »Langweilig!«, ruft Ted vom Rücksitz. »Die Nächste!«
    »Schön, wie ist es hiermit? Letztes Jahr hatte ich für das Halloween-Schaufenster des Buchladens versehentlich ein Buch mit dem Titel Als Hexe von Tür zu Tür bestellt«, erzähle ich. »Aber Titel können so trügerisch sein. Bei näherem Hinsehen erwies es sich nämlich als ein knallhartes Sachbuch über die Ausbeutung von Callgirls …«, Ted prustet los und hämmert mit der Faust gegen meine Kopfstütze, um seine Begeisterung zu demonstrieren, »… nicht gerade geeignete Lektüre für neunjährige Mädchen im Prinzessin-Jasmin-Kostüm. Wir haben es Gott sei Dank noch rechtzeitig bemerkt, bevor die Kunden es in die Finger bekamen.«
    »Ted?«, fragt Renny, während sie um einen umgestürzten Sattelschlepper manövriert. Auf der Ladefläche stehen Drahtkäfige, allesamt offen, zerstört oder blutig. Eine dicke Spur Federn ist immer noch auf der Straße verschmiert.
    »Was?«
    »Du bist dran«, sagt Renny.
    »Wir haben kein richtiges Halloween in China«, antwortet er und trommelt mit den Fingern gegen die Tür. »Es gibt Teng Chieh, denke ich, und das Fest der hungrigen Geister.«
    »Verarschst du mich?«, fragt Renny.
    »Nein, ich verarsche dich nicht, Renny. Was ist denn daran so unglaublich? Sicher, ich hatte nie das Privileg, mich mit einem Karton mit Hasenohren zu verkleiden, um mich darin öffentlich zu erniedrigen, aber so schlecht war es auch wieder nicht.«
    »Arschloch.«
    »Trotzdem«, sagt er und wischt sich sein Haar aus der Stirn. »Hey, einmal habe ich bei der Teng-Chieh-Feier die Fotografie meines Großvaters in Brand gesetzt. Ein blöder Unfall, aber Mann, war meine Mutter sauer. Überall standen brennende Laternen … Es musste einfach passieren.«
    »Das klingt nach echter Reue, Ted«, sage ich. »Deine Mutter muss sehr stolz sein.«
    »Oder tot … wahrscheinlich …«
    »Komm schon«, sagt Renny seufzend, »das versaut es uns jetzt.«
    Bis Iowa City schweigen wir wieder. Ich grübele darüber, was Ted über seine Mom gesagt hat. Ich weiß, es ist eine Art Selbstschutz, so lässig mit ihrem Tod umzugehen. Aber irgendwie wäre sie es wert, dass er um sie weint. Vielleicht hat er es wirklich so hingenommen, vielleicht weiß er, dass er seine Verwandten nie wiedersehen wird. Eine Familie zu verlieren, eine ganze Familie und dann auch noch Holly … Es muss etwas in ihm sein, etwas, das langsam nach oben drängt und nur darauf wartet hervorzubrechen, aber er lässt es uns nicht sehen. Vielleicht ist er nicht der Einzige, der alles verloren hat. Renny und ich haben keine

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