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Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Titel: Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine Roux
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die Handtasche und das Rad gibt es nichts, nur die zerfurchte Straße und Asche. Ich erwarte, Blut zu finden oder ein anderes Zeichen von meiner Mutter, aber da ist nur die Handtasche, zurückgelassen, scheinbar ohne Kampf. Ich sehe, dass Ted ungeduldig wird, wartet, aber ich muss es wissen. In der Handtasche fehlt das Portemonnaie. Da sind eine Haarsträhne, ein Päckchen Kaugummi, ein paar Münzen, und in der Naht des Futters steckt ein blauer Notizzettel. Ich ziehe ihn vorsichtig heraus und erkenne sofort ihre Handschrift.
    Tante Tammy
    Fort Morgan
    Liberty Village
    Liberty Village ist doppelt unterstrichen, und die Handschrift wirkt krakelig und gehetzt. Das Wort Tammy ist verwischt und zerlaufen.
    »Was bedeutet das?«, fragt Ted, der mir über die Schulter späht.
    »Tante Tammy lebt in Fort Morgan, keine Ahnung, was Liberty Village sein soll«, antworte ich und muss mich anstrengen, den kalten Knoten in meinem Hals niederzuhalten. Wenn ich jetzt tief atme oder schlucke, fange ich an zu heulen. Da stehe ich, mit der Handtasche und dem Zettel in der Hand. »Sie muss etwas von Tammy gehört haben. Vielleicht waren sie dahin unterwegs.«
    »Ich dachte, sie wären unterwegs zu den Apartments.«
    »Das dachte ich auch«, antworte ich mit gerunzelter Stirn. »Oder vielleicht wollten sie uns nach Fort Morgan mitnehmen. Vielleicht gehen sie jetzt dorthin. Himmel, sie war so nah. Nur ein paar Blocks, und …«
    »Allison.«
    »Ich weiß«, sage ich und blicke auf. Ted befindet sich halb in Spurtstellung, die Arme gespannt und leicht zitternd. Ich stecke den Zettel in meine Tasche und schultere die Handtasche. Es gibt keine Spur meiner Mutter oder ihrer Begleiter, keinen Hinweis darauf, in welche Richtung sie gegangen sind. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ted würde mir da nie vorgreifen.
    »Zack zuerst«, sage ich zu ihm. »Dann der Campus. Sie könnten dorthin geflohen sein, wenn sie in einen Hinterhalt geraten sind.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, ich bin sicher. Los jetzt.«
    Wir spähen in jede Seitenstraße, um sicher zu gehen, dass Zack die Hauptstraße nicht verlassen hat. Die Gebäude hier wirken verfallen, hohl und lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass er hier Halt macht. Wenn doch, würden wir ihn durch die geborstenen Fenster sehen. Ted und ich werden wieder schneller, wir weigern uns zu ermüden.
    Als wir von den Apartments aus gerechnet etwa elf Blocks zurückgelegt haben, erreichen wir eine Sackgasse: Dead End im wahrsten Sinne des Wortes. Direkt vor uns liegt ein Friedhof. Ein stiller kleiner Platz mit etwa sechzig Grabsteinen. In völliger Stille werden wir langsamer und bleiben schließlich vor einem niedrigen schmiedeeisernen Zaun stehen. Es wäre leicht, hinüberzuspringen, aber keiner von uns beiden rührt sich.
    »Es ist nicht wie in ›Die Nacht der lebenden Toten‹, sie kommen nicht aus den Gräbern gesprungen«, sage ich, aber ohne jede Zuversicht und Souveränität. Ted nickt und lüpft die Beine über den Zaun, landet auf der anderen Seite.
    »Allison«, murmelt er, aber das muss er nicht. Ich habe es auch schon gesehen. Ein Stück entfernt, hinter dem Totenacker mit seinen gesprenkelten Steinen und den Bäumen mit traurigen, tief hängenden Ästen, blitzt etwas Braun-Gelbes auf. Zack, sein Afghane und die Kisten. Er macht eine Pause unter einem Baum, steht vornübergebeugt da, wahrscheinlich um Atem zu schöpfen. Glück für uns, dass das Rennen mit zwanzig Pfund schweren Kisten anstrengende Arbeit ist. Ich hebe einen Finger an die Lippen, und wir schleichen zusammen über den Friedhof, lautlose Schatten, die über den schwammigen Boden gleiten. Die Axt fühlt sich jetzt schwerer in meinen Händen an, als wollte sie mich auffordern, einen Moment innezuhalten und meine Aktivitäten zu überdenken. Ich bin mir jedes Ästchens und jedes trockenen Blattes bewusst, meine Sinne geschärft von der Befürchtung: Ein Zweig könnte schnappen, und Zack ist auf und davon.
    Der Baum, an dem er lehnt, ist noch etwa zehn Meter entfernt. Ted und ich halten uns links und versuchen, den Stamm des Baumes zwischen uns und Zack zu halten. Das Problem einer Axt besteht darin, dass es sich um eine Waffe mit geringer Reichweite handelt. Man muss nah ran an sein Ziel, sehr nah. Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte Janette nicht den letzten Molotowcocktail gelassen. Ich kann mir nichts Befriedigenderes vorstellen, als Zack in einem Schwall lodernder Flammen aufgehen zu sehen.
    Natürlich hätte ich es fast

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