Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)
kleine Verschnaufpause. Wenn die Person hinter der Tür gerade wegsieht, haben wir eine Chance, die Oberhand zu gewinnen. Wenn sie die Tür beobachtet, sind wir vermutlich geliefert.
Ich halte den Atem an, strecke langsam die Hand aus und drücke die Tür auf. Wie durch ein Wunder machen die Scharniere kein Geräusch, und die Tür schwingt ein paar Zentimeter auf. Die Frau sieht in die andere Richtung, eine Getränkedose schaukelt in ihrer Hand, und eine Pistole steckt hinten im hohen Bund ihrer Jeans. Ich erkenne die Pistole. Die gleichen haben wir in der Arena bei den Schießübungen benutzt. Ich frage mich, wie lange sie diesen Exodus schon geplant hatten, seit wann sie Ausrüstung zusammengestohlen und konspiriert haben. An welchem Punkt haben sie wohl entschieden, dass Gebetskreise nicht länger ausreichen? An welchem Tag haben sie beschlossen, Zuversicht und Hilfsbereitschaft blankem Fanatismus zu opfern? Ich reiße ihr die Pistole aus dem Hosenbund. Sie stößt einen erschrockenen, mutlosen kleinen Hilfeschrei aus. Aber als sie herumfährt und den Lauf der Pistole auf ihr Gesicht gerichtet sieht, verstummt sie sofort. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie mich wahrnimmt: mein Haar verklebt von Schweiß und Blut, eine Laptoptasche vor die Brust gehängt, meine Hände und mein Gesicht gezeichnet vom letzten Keuchen eines anderen Menschen. Ich kann fast fühlen, wie die großen, tiefen Blutergüsse auf meinem Rücken und meiner Brust anschwellen. Ich bin realtiv sicher, dass eine meiner Rippen gebrochen ist, weil der Schmerz konstant in heißen Wellen bis in meinen Kopf hochstrahlt.
»Wo ist mein Hund?«, frage ich. Sie öffnet ein paar Mal ihren Mund und schließt ihn wieder. Um den Hals trägt sie eine Silberkette, an der ein Kreuz und ein paar kleine Figuren aus Zinn baumeln. Drei Menschenamulette, vielleicht eines für jedes Kind. Ich greife die Pistole am kalten Lauf und lasse sie fliegen. Der Griff trifft genau ihren Wangenknochen.
Gott, das wollte ich schon immer mal tun …
Während sie zurückweicht, ist Ned an meiner Seite. Ich spüre seine Konzentration, seine Aufmerksamkeit, die vollständig auf sie gerichtet ist, auf unser Angriffsziel.
»Ich frage dich noch einmal«, flüstere ich und ziehe den Schlitten der Waffe zurück, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. »Wo ist mein Hund?«
»Er – er ist in der Cafeteria am Ende des Flurs.«
»Bist du sicher?«
»Ja, hundertprozentig.«
»Und seine Kinder?«, frage ich und nicke dabei in Neds Richtung. Ihre grauen Augen wandern langsam in seine Richtung, und ihr Kinn zittert, als bekäme sie plötzlich Angst. Ich hebe den Lauf auf Höhe ihrer Nase. »Antworte mir, oder du wirst es bereuen. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
»D-den Flur runter im Ostflügel«, sagt sie und zeigt nach rechts.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Molly, Molly Anderson.«
»Das hier tut mir leid, Molly.« Ich schlage sie noch mal, diesmal viel härter, und sie bricht an der Wand zusammen. Ned atmet lange und tief aus und ich auch, denn bis gerade habe ich die Luft angehalten. Er legt mir eine Hand auf die Schulter, und ich spüre meinen vor Anspannung schmerzenden Körper.
»Kannst du mit dem Ding umgehen?«, fragt er.
»Nein«, antworte ich, »nicht wirklich. Eine gute, solide Axt würde ich jederzeit vorziehen.«
»Dann gib sie mir, du großes Baby.«
Ned nimmt die Pistole, und schon aus der Art, wie sich seine Finger um den Griff schließen, erkenne ich, dass es das Beste ist, wenn er sie hat. Er prüft das Magazin und runzelt die Stirn.
»Voller Ladestreifen«, sagt er, »ich bezweifle, dass sie überhaupt wusste, wie man sie abfeuert.«
»Wir können später darüber plaudern. Erst die Kinder, als Zweites kommt der Hund, das Gewissen folgt mit weitem Abstand dahinter.«
Es ist schaurig an diesem Ort, der eine Zuflucht sein sollte. Dieser Friedhof von einem Gebäude sollte erfüllt sein von Lachen und Lernen. Glücklicherweise wimmeln die Flure nicht von Leuten wie Molly, aber ich frage mich, wo sie alle stecken. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, kehrt zurück. Ich balle die Fäuste, damit ich unter dem Schauer nicht zu zittern beginne. Wir ducken uns, als wir die Wände entlangschleichen. Warum? Wenn sie uns sehen, sehen sie uns eben, aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich in dieser Haltung unsichtbarer. Wir huschen durch Klassenräume, offene Türen, stoßen geschlossene auf, jeder Raum in einer anderen Farbe gestrichen, mit
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