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Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)

Titel: Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine Roux
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Gegenwart wird eingeleitet von ein paar gepfiffenen Takten eines Mary-Poppins -Songs. Noch nie klang ein Lied über Drachen so traurig.
    »Kannst du nicht schlafen?«, fragt er freundlich.
    »Es ist zu voll im Zelt«, sage ich.
    »Ich weiß, du bist aufgebracht. Du musst mich nicht belügen«, sagt Collin und bleibt sehr nah an mir stehen. Derselbe vertraute Geruch, und ein unwillkommener, nicht vertrauter Schub von Verlangen. »Nur weil … die Dinge jetzt anders liegen, heißt das nicht, dass du mich belügen musst.«
    »Okay.«
    »Du bist verletzt. Ich habe es gesehen, als wir die Zelte aufgebaut haben … Du hättest dich einfach ausruhen können.«
    »Ich weiß.«
    »Ist es schlimm?«
    »Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. Ich wünschte, er würde gehen. Ich wünschte, er würde seine Wärme und seine Besorgnis und seinen gottverdammten Akzent woanders hintragen. Irgendwohin, möglichst weit weg, wo er nicht so in Versuchung führt. »Wahrscheinlich nur eine gebrochene Rippe.«
    »Du und Ned, ihr habt euch über die Einzelheiten ziemlich bedeckt gehalten. Ich hatte das Gefühl, das war Absicht. Du musst das nicht ausführen, wenn du nicht …«
    »Ich habe jemanden umgebracht«, sage ich.
    »Die Wache, ja. Er sagte, du hättest sie gewissermaßen umgehauen.«
    »Ich habe sie nicht umgehauen , Collin, sondern mit meinem Computerkabel erwürgt. Ich habe sie erdrosselt, und dann … dann war ihr Blut überall auf meinen Händen. Sie hat mich fast erstickt und gegen die Wand gequetscht. Es ging um sie oder mich, und fast wäre ich dran gewesen.«
    »Mein Gott. Vielleicht wollte ich das gar nicht wissen.«
    »Ich habe Zack umgebracht … Ich habe andere getötet. Ich fühle mich widerwärtig.«
    »Das bist du nicht. Ich schwöre es. Ich kann meine Augen nicht von dir lassen.«
    »Sicher kannst du das«, sage ich. »Du hast deine Frau zurück. Alles ist wieder gut.«
    »Du weißt, dass ich das nicht so sehe«, sagt er und lacht voller Bitterkeit. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, weil ich Angst habe, ich könnte einfach … Ich habe Angst, dass du denkst, ich sei ein sehr schlechter Mensch. Aber ich weiß gar nicht, was du denkst. Oder?«
    »Lass es uns dabei belassen«, erwidere ich. »Lass uns einfach … Ich weiß nicht … Lass uns einfach Abstand halten. Das macht die Dinge leichter für mich.«
    Collin schweigt, geht aber nicht weg. Ich sollte ihm sagen, dass ich Angst habe, dass ich nicht weiß, ob ich wirklich mit ihm zusammen sein will und dass die Möglichkeit seiner Verweigerung mich zurückstößt.
    Er sieht abwesend aus. Sein Gesicht verwandelt sich in eine Totenmaske, blass und abwesend. Der unbewegliche Blick des Pharao, der aus seinem bemalten Sarkophag schaut. Wir stehen nebeneinander in der betäubenden Kälte. Keiner von uns will die Situation entkrampfen, will nachgeben, oder reden. Darum will ich gehen, sage ich zu ihm im Geiste, weil ich nicht um dich sein kann. Ich darf nicht um dich sein und dich nicht nur für mich wollen.
    Ich höre, wie er den Atem anhält, und denke, er hat vielleicht einen umherwandernden Stöhner entdeckt. Aber dann sehe ich es, am Fuße des Hügels, schimmernd und fremd und völlig fehl am Platz. Es kommt so unerwartet, dass ich für einen Augenblick glaube, es sei nicht wirklich da. Vielleicht ist es eine Halluzination, eine Erscheinung des Nebels …
    »Gott«, sagt er, »es ist so schön.«
    Und dann erinnere ich mich, wo wir uns befinden. Die Wege, die Bänke, die zertrümmerten Straßenschilder und warum der Park mir so bekannt vorkam. Es ist der Henry-Vilas-Park. Meine Mom hat mich als kleines Kind zweimal mit hergenommen. Gleich neben dem Park mit seinen Picknicktischen und hübschen Bänken liegt der Henry-Vilas-Zoo.
    Während es zum Fuß des Hügels trottet, scheint das Zebra zu spüren, dass jemand dort oben steht und es beobachtet. Es bleibt stehen, wendet in einem kompletten Kreis, seine Hufe gedämpft vom harten, kalten Boden, und starrt uns an. Die lange, gestreifte Schnauze senkt sich und schwenkt zur Seite, als es uns betrachtet. Die schwarzen Augen öffnen und schließen sich mit dieser verstörenden, pferdeartigen Sensibilität. Ich weiß , scheint es zu sagen, ich bin auch verloren. Ich frage mich, wie viele von den Tieren überlebt haben. Ob im Nebel auch noch Tiger, Elefanten und Giraffen warten? Diese Gedanken dauern nicht lange an. Collin nimmt meine Hand und hält sie. Er drückt nicht, er wiegt sie.
    »Hasst du mich?«, flüstert er.
    »Nein.

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