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Sie nennen es Leben

Titel: Sie nennen es Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Pilarczyk
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Regeln folgt. Regeln, die gerade im Internet eine ungeheure Wirkungsmacht entfalten.
    Â» Durch den Ausbau der Schulzeit werden immer mehr junge Leute immer länger in einem Zustand der verzögerten Reife gehalten « , schreibt der US-Soziologe Murray Milner in seiner Studie » Freaks, Geeks, and Cool Kids « . » Ganz offensichtlich trägt das dazu bei, dass der Einfluss von Gleichaltrigen wächst und der von Erwachsenen abnimmt– was bestimmte Verhaltensmuster zur Folge hat, über die Erwachsene seit langem murren. Trotzdem hat sich nach einem halben Jahrhundert voller Beschwerden, ja manchmal sogar Empörung seitens der Erwachsenen wenig daran geändert, wie Erwachsene die Leben von Jugendlichen organisieren: sie werden fünf Tage die Woche in die Schule geschickt, nach Alter geordnet und von einer Handvoll von Lehrern betreut. «
    Mit dem Hinweis auf die verzögerte Reife von Jugendlichen thematisiert Milner eine wichtige Entflechtung: Wo vor fünfzig Jahren der Schulabschluss oft gleichbedeutend mit dem Eintritt ins Berufsleben war, Heirat und Familiengründung schnell danach anstanden und nur auf den ersten Wahlbescheid noch etwas gewartet werden musste, verläuft die Jugendzeit heutzutage völlig anders. Der erste Job wird durch die längeren Ausbildungszeiten später angetreten. Durch die Emanzipation der Frau und anderen soziokulturellen Veränderungen verschiebt sich die Geburt des ersten Kindes immer weiter nach hinten. Nur das Wahlalter ist im selben Zeitraum gesunken.
    Mit Ende der biologischen Jugend haben junge Menschen deshalb selten die oben erwähnten Entwicklungsaufgaben bewältigt. Aber worauf sollten sie sich auch genau vorbreiten? Für sie steht– gerade angesichts der wachsenden Unsicherheit beim Berufseinstieg– kein fertiges Erwachsenenleben bereit. Ihre Zeit des Heranwachsens ist zu einer Zeit der überlappenden Prozesse und komplexen Herausforderungen geworden. Für deren Bewältigung haben sie jedoch, wie gesehen, immer weniger freie Zeit und freien Raum. » Jugend ist eine biografisch offene Lebensphase wie eine alltäglich enge Realität gleichermaßen geworden « , bringt es Lothar Böhnisch in seinem Standardwerk » Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters « auf den Punkt.
    Â»Warum benehmen sich Teenager so, wie sie sich benehmen?«
    Marie (16) ist das Mädchen, das durch sein Austauschjahr in Australien seinen Freundeskreis zu Facebook gebracht hat. Auf ihrem Profil hat die Gymnasiastin über 400 Freunde aufgelistet. » Davon sind aber nur 30 wirklich gute Freunde « , sagt sie. Marie ist nicht täglich auf Facebook, sie macht viel Sport, spielt Gitarre, singt im Chor und engagiert sich in einer kirchlichen Jugendgruppe. Wenn sie aber Zeit für Facebook hat, bleibt sie zwei bis drei Stunden » on « . Dann lädt sie Bilder von sich und ihren Freunden hoch oder kommentiert die Fotos der anderen. Oft klickt sie auf den » Gefällt mir « -Button. Dann erscheint ein nach oben gerichteter Daumen unter einem Foto oder einem Kommentar, und die Zeile » Marie gefällt dies « erscheint. » Damit zeigt man, dass man interessiert ist « , sagt sie.
    Wie Marie Social Networks nutzt, illustriert, wie sich die Lebenswelten von Teenagern und Erwachsenen entkoppelt haben: Während sich Erwachsene hauptsächlich über Beruf, Einkommen und gesellschaftlich-politischen Einfluss definieren und gegenseitig bewerten, bleiben Jugendlichen diese Ressourcen verwehrt. Sie können in diesem System nicht mithalten, weil sie keine Gehaltserhöhungen oder Beförderungen vorzuweisen haben. Stattdessen schaffen sie sich ein System, in dem ihre eigenen Werte und Regeln gelten– und die sie zum Beispiel mit dem » Gefällt mir « -Button zum Ausdruck bringen.
    Als » eine informelle gesellschaftliche Welt, in der sie sich gegenseitig bewerten « , beschreibt Murray Milner die Lebenswelt von Jugendlichen. Er hat mit einem Forscherteam mit über zwanzig Mitarbeitern eine ausgewählte High-School drei Jahre lang intensiv beobachtet. Seine Leitfragen waren: Warum benehmen sich Teenager so, wie sie sich benehmen? Warum zerbrechen sich so viele von ihnen den Kopf darüber, welche Marken sie tragen, zu welchen Partys sie eingeladen werden, wer mit wem zusammen ist, was der neueste Musiktrend ist? Warum grenzen sie sich von bestimmten Gruppen in ihrer Schule ab und

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