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Sie nennen es Leben

Titel: Sie nennen es Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Pilarczyk
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warum wollen sie zu anderen unbedingt dazugehören? Warum sind sie so häufig gemein zueinander? Die Antworten auf diese Fragen erklären gleichzeitig auch, warum Social Networks so reizvoll für Jugendliche sind.
    Für die Feldforschung setzte sich das Team um Milner in der Mittagspause an die Tische der verschiedenen Cliquen, liefen mit ihnen durch die Schulgänge zu ihren Schließschränken, stellten sich in den Pausen zu ihnen und ließen sich von ihnen erklären, warum Weiße und Schwarze meist getrennt sitzen. Darüber hinaus wertete Milners Team auch noch die Beschreibungen von über 300 Studierenden über ihre Schulzeit aus. Aus dieser Fülle an Material entwickelte Milner schließlich seine Theorie der Statusbeziehungen und veröffentlichte sie 2004 . Sie bezieht sich auf das US-amerikanische System der High Schools, das in seiner Strukturiertheit wahrscheinlich einzigartig ist. Von der gefeierten Ballkönigin bis zum seltsamen Mathestreber gibt es ein ziemlich starres Ensemble an Rollen. Aus ihm auszubrechen ist Thema einer Reihe von TV-Serien wie » Twin Peaks « , »90210« oder » Veronica Mars « .
    Bei allen Unterschieden zum Alltag an deutschen Schulen klingt das Rätsel, das Milner umtreibt, wahrscheinlich trotzdem sehr vertraut: Warum legen Jugendliche nur so viel Wert auf Oberflächlichkeiten?
    Milner erklärt das anhand des Status. Unter Status versteht er die gesammelte Anerkennung oder Ablehnung, die Menschen anderen Menschen entgegenbringen. Status setzt sich dabei aus vier Kernelementen zusammen. Erstens: der Befolgung von Regeln. Um Status zu erlangen, muss man den Vorgaben anderer genügen– wie zum Beispiel die » richtige « Musik hören. Das scheint eine banale Beobachtung zu sein, hat aber weitreichende Konsequenzen. Menschen mit höherem Status neigen nämlich dazu, die Regeln ständig zu verändern und zu verschärfen– wo eben noch Dizzee Rascal als bester Grime-MC galt, darf man plötzlich nur noch Tinie Tempah hören. Damit machen die Statushöheren es anderen schwer, den Anschluss zu behalten oder gar zu ihnen aufzuschließen. So festigen sie ihre Führungsposition und sichern die relative Undurchlässigkeit ihrer Gruppe ab. Mit diesem Mechanismus lässt sich unter anderem erklären, warum Markenkleidung unter Jugendlichen so wichtig geworden ist: Wenige Dinge im Leben lassen sich so schnell und unkompliziert ändern wie der Kleidungsstil oder die Frisur.
    Zweitens sind Beziehungen entscheidend für den persönlichen Status. Wer sich mit Statushöheren anfreundet oder sogar zusammenkommt, erhöht seinen eigenen Status. Umgekehrt senkt derjenige seinen Status, der sich mit Statusniedrigeren einlässt. Dies ist einer der Gründe, warum Jugendliche so sehr darauf bedacht sind, die » richtigen « Freunde zu haben und diese Freundschaften demonstrativ auszuleben– entweder durch den öffentlich verliehenen Titel der » besten Freundin « oder durch spezielle Begrüßungsrituale, die zeigen, wie vertraut man miteinander ist. Darüber hinaus erklärt es auch, warum es für Jugendliche so wichtig ist zu wissen, mit wem andere befreundet oder liiert sind: So sind sie immer über den aktuellen Status der anderen informiert.
    Drittens ist Status unveräußerlich, das heißt, er ist kein materielles Gut wie Schmuck, das man dem anderen klauen kann. Damit sich der Status einer Person ändert, müssen sich erst die Einstellungen anderer in Bezug auf diese Person ändern. Das ist ein komplexer Prozess, weshalb das Statussystem ziemlich träge ist– und sich Menschen, die mit ihrem Status unzufrieden sind, sehr abmühen müssen, bis er sich verändert.
    Hinzu kommt viertens, dass Status eine vergleichsweise begrenzte Ressource ist. Um seine Attraktivität und Aussagefähigkeit zu bewahren, darf Status nicht für alle erreichbar sein. Genauso wie der Nobelpreis an Bedeutung verlieren würde, würde er hundertfach verliehen, kann nicht jeder in einer Gruppe der Ranghöchste sein. Ohne Unten gibt es kein Oben. Deshalb muss in einer Gruppe, in der jemand aufsteigt, im Gegenzug meist jemand absteigen. Dieser Mechanismus hat zur Folge, dass Jugendliche Veränderungen im Status von anderen genauestens beobachten, da diese Auswirkungen auf ihren eigenen Status haben könnten. Unter Umständen versuchen sie sogar, den Aufstieg

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