Sie nennen es Leben
verstehen.
Dafür gibt es verschiedene Hinweise: Zunächst finden die Ãbergriffe in der Regel in einer festen sozialen Gruppe wie eben einer Schulklasse statt. Täter und Opfer kennen sich, weshalb man bei Bullying nicht von einer wahllosen Form der Triebabfuhr oder unspezifischen Grausamkeit sprechen kann. Dafür spricht auch, dass sich Bullying nicht isoliert beziehungsweise als Privatfehde vollzieht. Die Ãbergriffe finden oft vor einem gröÃeren Publikum statt. Das beeinflusst wiederum die Tat. Wo Täter ein Publikum haben, wird nämlich nichtâ wie man denken könnteâ häufiger eingegriffen. Im Gegenteil: das Bullying dauert insgesamt sogar länger an, weil sich die Täter von ihren Zuschauern ermutigt fühlen.
Dieser Umstand lässt auch die klare Einteilung zwischen Opfern und Tätern hinfällig werden. Eine Forschungsgruppe um die finnische Psychologin Christina Salmivalli hat deshalb vier zusätzliche Rollen, die Beteiligte beim Bullying einnehmen können, identifiziert. Dazu zählen sie die Assistenten, die den Bullies bei ihren Ãbergriffen direkt helfenâ zum Beispiel indem sie die Opfer festhaltenâ, und die Verstärker, die zwar selber nicht aktiv werden, aber die Täter durch Lachen oder sonstige Formen der Anerkennung bestärken. Daneben gibt es noch die Beschützer , die sich vor das Opfer stellen, und die AuÃenseiter , die nichts vom Bullying wissen oder dies zumindest behaupten.
Doch selbst diese Einteilungen sind nicht fix. Es kommt sogar vor, dass Opfer zu Tätern werden und umgekehrt, weshalb dafür der Begriff » Bully/Victims « geschaffen wurde. Wenn Opfer selbst zu Ãbergriffen übergehen, kann das eine Form der Selbstverteidigung sein. Sie können aber auch am eigenen Leib erfahren haben, dass Bullying Statusvorteile bringt, und fühlen sich deshalb ermutigt. Und nicht zuletzt verändert sich im Verlauf der Jugendzeit auch die Struktur von Bullying: Je älter ein Jugendlicher wird, desto seltener wird er zum Opfer von Bullying. Da mit dem Alter sein Status steigt, gibt es immer weniger Ãbergeordnete, die sich auf seine Kosten profilieren könnten.
Wie sich Cyberbullying vollzieht, ist noch nicht ähnlich detailliert erforscht worden. Trotzdem stehen die digitalen Medien im Verdacht, das Bullying-Problem insgesamt zu verschlimmern. Schuld sollen Distanz und Anonymität sein: Weil man seinem Opfer nicht persönlich gegenübertritt, wenn man ihm eine böse SMS oder ein ekliges Foto schickt, senken Handy und Internet die Hemmschwelle für solche Aktionen. AuÃerdem fühlen sich die Bullies durch die Anonymität des Netzes so geschützt, dass sie ohne Furcht vor Enttarnung und Strafe handeln. Und nicht zuletzt soll es an den besonderen Eigenschaften von Netzöffentlichkeitenâ potenziell riesiges Publikum und unendliche Verbreitungâ liegen, dass sich Cyberbullying so schnell ausbreitet.
Beweise gibt es für diese Behauptungen nicht. Im Gegenteil: Laut » EU Kids Online « sind zwar 18 Prozent der Befragten in Deutschland im letzten Jahr Opfer von Bullying geworden. Aber nur vier Prozent erlebten die Schikanen ausschlieÃlich im Internet. Dieses starke Gefälle ergibt sich in allen untersuchten Ländern von Estland bis Portugal. Bullying ist also zuallererst ein Offline-Problem.
Diese Zahlen sagen jedoch nichts darüber aus, ob Cyberbullying eine besondere Qualität hat. Die JIM-Studie 2010 gibt erste Hinweise. Demnach haben schon 15 Prozent aller jungen User in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass Falsches oder Beleidigendes über sie im Internet verbreitet wurde. Dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis online fertiggemacht wurde, berichten sogar 23 Prozent. Trotzdem scheinen Jugendliche darin kein massives Problem zu sehen: Auf die Frage, was sie als die gröÃten Gefahren im Internet erachten, nennen 44 Prozent von ihnen Abzocke und Betrug allgemein, gefolgt von Computerviren ( 42 Prozent) und Datenklau und -missbrauch ( 28 Prozent). Cyberbullying landet mit 25 Prozent auf dem vierten Platz.
Auch Chiara, das Mädchen, das für die Kommunikation mit ihren Freunden besonders gern die Pinnwand in Social Networks benutzt, hält Cyberbullying für vergleichsweise harmlos. Die Streitereien, die sie auf SchülerVZ und Facebook mitkriegt, nennt sie » bitch fights « , also Zickenkriege. Oft fange das mit Kommentaren wie » bitch
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