Sie sehen aber gar nicht gut aus!
mittlerweile eingetroffene Notärztin stimmte mir zu – der Mann musste intubiert werden.
»Ich mach die Intubation klar«, rief Lenny und eilte in Richtung Rettungswagen.
»Alles klar. Wir sind gleich so weit. Wollen schließlich pünktlich zum Feierabend wieder in der Wache sein«, sagte ich und drückte den Beatmungsbeutel aus. Die Mutter hatte mich zum Glück nicht gehört.
»Gib ihm das Eto und Midazolam«, meinte die junge Ärztin. Ich spritzte 30 und zehn Milligramm der beiden Stoffe in die Vene. Nach kurzer Zeit sollte der Mann eigentlich das Atmen komplett eingestellt haben, sodass wir es für ihn übernehmen konnten. Im Rettungsdienst kommt es aber leider ab und an einfach anders, als man denkt. Statt eines erwünschten Atemstillstands bekam der junge Mann einen Krampfanfall. Der ganze Körper fing an zu beben. Speichel ran das Gesicht hinab. Das Etomidat sollte Thomas eigentlich in einen narkoseähnlichen Zustand bringen. Es sollte Bewusstsein, Atmung und Reflexe ausschalten, aber offenbar wirkte es nicht.
»Gib ihm mehr«, befahl die Notärztin. Lenny gab nochmals zehn Milligramm und zusätzlich dieselbe Menge an Midazolam, das die durch das Etomidat entstehenden Zuckungen am ganzen Körper unterdrücken sollte. Wir warteten ab, aber der hässliche Zustand ließ einfach nicht nach. Vielleicht funktionierte eine Narkose mit dem milchigen Etomidat im Fall einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid ja nicht? Thomas bekam insgesamt drei komplette Ampullen Etomidat – eine Menge, mit der man im Normalfall ein Rhinozeros schlafen legen könnte. Nun mussten noch Succinylcholin und Thiopental her. Die beiden Medikamente werden zusätzlich zum Kaliumchlorid für die amerikanische Giftspritze verwendet. Das Thiopental lässt den Menschen einschlafen. Succinyl lähmt die Muskulatur, sodass der Todgeweihte nicht mehr atmen kann. Das Kaliumchlorid erzeugt lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen und stoppt schließlich das Herz – Ende.
Unser Patient wurde jedoch nicht exekutiert, sondern intubiert und beatmet. Und es klappte.
»Der Helikopter steht am Sportplatz bereit«, meinte Lenny, nachdem er durch das Fenster geblickt hatte.
Das war unser Stichwort. Ich gab das Zeichen, und Lenny setzte den Rettungswagen in Bewegung. Der Rest war Routine. Übergabe an den Notarzt des Rettungshubschraubers, Umlagern auf deren Trage. Hineinschieben in den Rumpf und das Gemaule des Piloten, weil ich gegen die Antenne am Heckrotor gestoßen war.
Dann war der Einsatz beendet, doch den pünktlichen Feierabend hatten wir nicht geschafft. Aber was soll’s. Immerhin hatte der junge Mann den Selbstmordversuch überlebt. Knapp zwar, aber ohne Folgeschäden.
Jedes Mal, wenn in Zukunft wieder das fröhliche Gekicke in der Wache angesagt war, musste ich an diesen Einsatz denken. Auch daran, dass sich die Zeiten geändert haben, dass sich Menschen nicht mehr einfach erhängen oder die Pulsadern aufschneiden. Mittlerweile wird zu anderen Methoden gegriffen. Ersticken durch Kohlenmonoxid und Schwefelwasserstoff oder Vergiftungen mit Zyaniden sind »in«, schmerzfrei und schonend. Der Nachteil ist: Diese Methoden gefährden andere.
Mein Wachleiter drehte uns übrigens nie wieder den Rücken zu, wenn wir im Hof der Rettungswache auf die Lederkugel eindroschen. Auch seinen Kaffee trank er nur noch, wenn er uns und die Fensterfront im Blick hatte.
Morbus Kobold
Gelegentlich werden wir dazu überredet, Praktikanten mitzunehmen. Das will eigentlich keiner so wirklich, da dies für uns überwiegend mit Arbeit verbunden ist. Trotzdem versuchen wir in solchen Fällen, die Praktikanten durch die Vermittlung unseres mal mehr, mal weniger breit gefächerten Wissens auf den knallharten Ernst des Rettungsdienstlebens vorzubereiten. Und das Ganze nach Möglichkeit so, dass sie während ihrer späteren Tätigkeit weder sich selbst noch jemand anderen umbringen werden. Den Job eines Rettungsassistenten muss sich jeder Anwärter schließlich in Kleinstarbeit unter völliger Aufgabe des Privatlebens aneignen. Mit diesen Schülern verhält es sich so wie mit allen Menschen in einer Kennenlernphase. Es gibt Menschen, die wie das blühende Leben in die Wache schneien und einem auf Anhieb sympathisch sind. Wenn dann noch Transferleistung, Sozialkompetenz und Wissbegier stimmen, ist die Person perfekt. Wenn besagte »Praktikanten« über blondes Haar und blaue Augen sowie die Körpermaße 90-60-90 verfügen, sind sie für die Männerdomäne Rettungsdienst
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