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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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zum Teufel geht da vor, Mike?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Stimmt das, was sie dir vorwerfen?«
    »Sag bitte, dass du das nicht ernst meinst.«
    »Sie haben mir Kopien von deinen Rezepten vorgelegt und eine Liste mit den Medikamenten gegeben, die du verschrieben hast. Das waren alles nicht unsere Patienten. Und mindestens die Hälfte der darauf verschriebenen Medikamente benutzen wir überhaupt nicht.«
    »Ich weiß.«
    »Es geht auch um meine Karriere«, sagte sie. »Das war zuerst meine Praxis. Du weißt, wie viel sie mir bedeutet.«
    Da war etwas in ihrer Stimme, ein Schmerz, der über die nachvollziehbare Verletztheit hinausging. »Tut mir leid, Ilene. Ich versuch selbst noch rauszukriegen, was da los ist.«
    »Ich denke, ich habe eine eingehendere Erklärung verdient als: ›Das ist eine lange Geschichte‹.«
    »Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, was los ist. Adam wird vermisst. Ich muss ihn finden.«

    »Was meinst du mit vermisst?«
    Er fasste kurz zusammen, was passiert war. Als er fertig war, sagte Ilene: »Ich möchte nur ungern die Frage stellen, die sich daraus ergibt.«
    »Dann lass es.«
    »Ich will meine Praxis nicht verlieren, Mike.«
    »Das ist jetzt unsere Praxis, Ilene.«
    »Auch wieder wahr. Also, wenn ich dir dabei irgendwie helfen kann …«, setzte sie an.
    »Dann melde ich mich.«

    Nash hielt vor Pietras Wohnung in Hawthorne. Sie brauchten ein paar Tage lang Abstand voneinander. Das merkte er. Langsam traten Risse auf. Sie würden immer irgendwie verbunden bleiben  – nicht so eng, wie er mit Cassandra verbunden war, das konnte man nicht vergleichen. Aber da war etwas zwischen ihnen, eine Anziehung, die sie immer wieder zusammenführte. Anfangs war es wohl vor allem Dankbarkeit gewesen, da wollte sie sich dafür revanchieren, dass er sie in diesem grässlichen Land gerettet hatte, obwohl sie eigentlich gar nicht gerettet werden wollte. Vielleicht lag deshalb auf dieser Rettung auch ein Fluch, der ihn jetzt befallen hatte, so dass er in ihrer Schuld stand und nicht umgekehrt.
    Pietra sah aus dem Fenster. »Nash?«
    »Ja.«
    Sie kratzte sich kurz am Hals. »Die Soldaten, die meine Verwandten abgeschlachtet haben. Und die unaussprechlichen Sachen, die sie ihnen angetan haben  – und mir auch …«
    Sie brach ab.
    »Ich hör dir zu«, sagte er.
    »Glaubst du, dass das alles Mörder, Vergewaltiger und Folterer waren  – dass sie so was auch gemacht hätten, wenn kein Krieg gewesen wäre?«

    Nash antwortete nicht.
    »Der eine, den wir hinterher gefunden haben, war der Bäcker«, sagte sie. »Wir haben immer bei ihm eingekauft. Die ganze Familie. Er hat viel gelächelt. Und er hat uns kleine Lutscher geschenkt.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Wenn es keinen Krieg gegeben hätte«, sagte Pietra, »hätten sie einfach ganz normal weitergelebt. Sie wären ihren Berufen als Bäcker, Schmied oder Zimmermann nachgegangen. Sie wären keine Mörder geworden.«
    »Meinst du, dass gilt auch für dich?«, fragte er. »Wärst du auch einfach weiter Schauspielerin gewesen?«
    »Um mich geht’s mir gar nicht«, sagte Pietra. »Mich interessieren nur die Soldaten.«
    »Gut, in Ordnung. Du glaubst also, dass der Druck, unter dem sie im Krieg standen, für ihr Verhalten verantwortlich ist.«
    »Du nicht?«
    »Nein.«
    Sie wandte ihm langsam den Kopf zu. »Wieso nicht?«
    »Dein Argument ist, dass der Krieg sie gezwungen hat, auf eine Art zu handeln, die nicht ihrer Natur entspricht.«
    »Ja.«
    »Aber vielleicht ist genau das Gegenteil passiert«, sagte er. »Vielleicht hat der Krieg sie befreit und ihr wahres Ich zum Vorschein gebracht. Ist es nicht vielleicht eher die Gesellschaft, und nicht der Krieg, die die Menschen zwingt, sich auf eine Art zu verhalten, die nicht ihrer Natur entspricht?«
    Pietra öffnete die Tür und stieg aus. Er sah ihr nach, als sie in dem Gebäude verschwand. Er legte den Gang ein und machte sich auf den Weg zu seinem nächsten Ziel. Eine halbe Stunde später parkte er in einer Seitenstraße zwischen zwei Häusern, die leer zu sein schienen. Der Lieferwagen sollte nicht auf dem Parkplatz gesehen werden.

    Nash klebte sich den falschen Schnurrbart an und setzte eine Baseballkappe auf. Er ging drei Blocks zu einem großen Backsteingebäude. Es wirkte verlassen. Nash war sicher, dass die Vordertür abgeschlossen war. Aber ein Nebeneingang war mit einem Streichholzbrief verklemmt. Er zog die Tür auf und ging die Treppe hinunter.
    An den Flurwänden hingen

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