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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Bilder von Kindern. Dann kam ein Schwarzes Brett mit Aufsätzen.
    Nash blieb stehen und las ein paar. Sie waren von Drittklässlern geschrieben und handelten alle nur von ihnen. So wurden Kinder heutzutage erzogen. Sie sollten nur an sich selbst denken. Du bist faszinierend. Du bist einzigartig und etwas ganz Besonderes, und kein Mensch ist gewöhnlich  – wodurch wir, wenn man richtig darüber nachdachte, eigentlich alle ganz gewöhnlich waren.
    Er ging in das Klassenzimmer im Tiefgeschoss. Joe Lewiston saß im Schneidersitz auf dem Fußboden. Er hatte ein paar Zettel in der Hand und Tränen in den Augen. Als Nash eintrat, blickte er auf.
    »Es bringt nichts«, sagte Joe Lewiston. »Sie schickt immer noch diese Mails.«

32
    Muse befragte Marianne Gillespies Tochter eingehend, aber Yasmin wusste nichts.
    Yasmin hatte ihre Mutter nicht gesehen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie wieder in der Stadt war.
    »Ich dachte, sie ist in L.A.«, sagte Yasmin.
    »Hat sie dir das gesagt«, fragte Muse.
    »Ja.« Dann: »Na ja, sie hat mir eine E-Mail geschickt.«

    Muse erinnerte sich, dass Guy Novak ihr das Gleiche gesagt hatte. »Hast du die noch?«
    »Muss ich mal nachgucken. Ist mit Marianne alles okay?«
    »Du nennst deine Mutter beim Vornamen?«
    Yasmin zuckte die Achseln. »Sie wollte ja eigentlich gar keine Mutter sein. Also hab ich mir irgendwann gedacht, warum soll ich sie immer wieder daran erinnern? Seitdem nenn ich sie Marianne.«
    Sie werden so schnell erwachsen, dachte Muse. Dann fragte sie noch einmal. »Hast du die E-Mail noch?«
    »Wahrscheinlich. Müsste eigentlich bei mir im Rechner sein.«
    »Kannst du sie mir ausdrucken?«
    Yasmin runzelte die Stirn. »Aber Sie wollen mir nicht sagen, worum es geht.« Das war keine Frage.
    »Nichts, worum man sich jetzt schon Sorgen machen müsste.«
    »Verstehe. Sie wollen also, dass sich die kleine Tochter keine Sorgen macht. Wenn es um Ihre Mutter gehen würde und Sie so alt wie ich wären, würden Sie dann nicht wissen wollen, was los ist?«
    »Gutes Argument. Aber wir wissen wirklich noch nichts. Dein Dad kommt bald wieder. Ich würde die E-Mail wirklich gern sehen.«
    Yasmin ging die Treppe hinauf. Ihre Freundin blieb unten. Normalerweise hätte Muse Yasmin allein befragt, aber die Anwesenheit ihrer Freundin schien sie zu beruhigen.
    »Wie war dein Name noch?«, fragte Muse.
    »Jill Baye.«
    »Kennst du Yasmins Mom, Jill?«
    »Ich hab sie ein paarmal gesehen.«
    »Du siehst besorgt aus.«
    Jill verzog das Gesicht. »Wenn sich eine Polizistin bei mir nach der Mutter meiner Freundin erkundigt, muss ich mir wohl Sorgen machen.«

    Diese Kids.
    Yasmin kam mit einem Blatt Papier die Treppe wieder heruntergetrottet. »Hier ist sie.«
    Muse las:
    Hi! Ich bin für ein paar Wochen in Los Angeles. Ich melde mich, wenn ich wieder da bin.
    Das erklärte vieles. Muse hatte sich gefragt, warum die Unbekannte nicht vermisst gemeldet worden war. Ganz einfach. Sie lebte allein in Florida. Mit ihrem Lebensstil und dieser E-Mail hätte es Monate oder sogar noch länger dauern können, bis jemand aufgefallen wäre, dass etwas nicht stimmte.
    »Hilft Ihnen das?«, fragte Yasmin.
    »Ja, danke.«
    Tränen traten Yasmin in die Augen. »Sie ist aber trotzdem meine Mom.«
    »Ich weiß.«
    »Sie liebt mich.« Yasmin fing an zu weinen. Muse ging einen Schritt auf sie zu, aber das Mädchen hob die Hand und hielt sie auf Distanz. »Sie weiß einfach nicht, was man als Mutter so macht. Sie versucht’s ja, aber sie begreift’s einfach nicht.«
    »Schon okay. Ich verurteile sie nicht oder so was.«
    »Dann sagen Sie mir, was passiert ist. Bitte.«
    Muse sagte: »Das kann ich nicht.«
    »Aber es ist was Schlimmes, oder? Das können Sie mir doch sagen. Ist es was Schlimmes?«
    Muse wollte ehrlich zu dem Mädchen sein, aber dies war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.

    Nash sagte: »Beruhig dich.«
    Joe Lewiston erhob sich in einer flüssigen Bewegung aus dem
Schneidersitz. Lehrer, dachte Nash, waren diese Bewegung wohl gewöhnt. »Tut mir leid. Ich hätte dich da nicht mit reinziehen sollen.«
    »Es war richtig, dass du mich angerufen hast.«
    Nash sah seinen ehemaligen Schwager an. Ein ehemaliger Schwager, weil man bei Ex sofort an Scheidung dachte. Cassandra Lewiston, seine geliebte Frau, hatte fünf Brüder gehabt. Joe Lewiston, der jüngste, war ihr der liebste gewesen. Als ihr ältester Bruder Curtis vor etwas mehr als zehn Jahren ermordet worden war, hatte das

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