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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Dolly«, fauchte er. »Und was soll ich jetzt dagegen tun?«
    »Dass kann er nicht machen.« Sie sah ihm hinterher, bis das Auto in der Ferne verschwunden war. »Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?«
    »Und was sagen wir denen dann?«
    »Dass er uns verfolgt.«
    »Er fährt durch unsere Straße. Das ist ja schließlich nicht verboten.«
    »Er bremst und fährt langsamer.«
    »Das ist auch nicht verboten.«
    »Du kannst ihnen ja erzählen, was passiert ist.«
    Er grunzte, starrte aber weiter auf die Arbeit. »Da wird die Polizei bestimmt großes Mitleid mit mir haben.«
    »Wir haben auch ein Kind.«
    Tatsächlich hatte sie gerade die kleine Allie, ihre dreijährige Tochter, im Computer beobachtet. Auf der Website vom K-Little
Gym konnte man sein Kind über eine Webcam im Zimmer beobachten  – beim Essen, Spielen mit Bauklötzen, Lesen, Singen, bei der Kleingruppen- und Einzelarbeit, ganz egal  –, man konnte immer nachgucken, was sie gerade machten. Aus diesem Grund hatte Dolly sich für K-Little entschieden.
    Genau wie Joe arbeitete auch sie in der Grundschule. Joe unterrichtete in der fünften Klasse der Mount-Riker-Schule. Sie unterrichtete eine zweite Klasse in Paramus. Dolly Lewiston hätte gerne aufgehört zu arbeiten, aber sie brauchten beide Gehälter. Ihr Mann liebte seine Arbeit immer noch, Dolly hingegen war die Liebe fürs Unterrichten irgendwann abhandengekommen. Manchen Freunden war aufgefallen, dass das ungefähr zur Zeit von Allies Geburt geschehen war, sie glaubte jedoch, dass das nicht der einzige Grund war. Trotzdem machte sie immer noch ihre Arbeit und widerstand den Klagen der Eltern, aber eigentlich wollte sie nur noch die K-Little -Website angucken und sich vergewissern, dass ihr kleines Baby in Sicherheit war.
    Guy Novak, der Mann, der seit einigen Tagen immer wieder langsam an ihrem Haus vorbeifuhr, hatte seine Tochter nicht beobachten oder sich vergewissern können, dass sie in Sicherheit war. Auf einer Ebene verstand Dolly daher vollkommen, was in ihm vorging und hatte sogar Verständnis für seine Frustration. Trotzdem würde sie ihm nicht erlauben, ihrer Familie Schaden zuzufügen. Oft musste man sich einfach nur entscheiden zwischen sich und den anderen, und sie würde es nicht zulassen, dass ihre Familie in Mitleidenschaft gezogen wurde.
    Sie drehte sich um und sah Joe an. Er saß mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen vor der Arbeit.
    Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen, als sie ihn berührte. Es war nur ein kurzes Zucken, aber es ging ihr durch Mark und Bein. Er war schon seit Wochen so angespannt. Sie ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen, nahm sie nicht wieder weg, und er entspannte sich langsam.
Sie massierte seine Schultern. Früher mochte er das. Es dauerte ein paar Minuten, aber dann entspannten sich auch die Schultern.
    »Das wird schon«, sagte sie.
    »Ich hab einfach die Nerven verloren«, sagte er.
    »Ich weiß.«
    »Ich hab alles gegeben, wie immer, und dann …«
    »Ich versteh das.«
    Das tat sie wirklich. Genau deshalb war Joe Lewiston ein guter Lehrer. Er war mit Leidenschaft bei der Sache. Dadurch hörten seine Schüler ihm zu  – er erzählte zwischendurch Witze und überschritt auch gelegentlich die Grenze dessen, was als angemessenes Verhalten eines Lehrers gegenüber seinen Schülern galt. Aber genau dafür liebten sie ihn. Sie passten besser auf und lernten mehr. Manchmal beschwerten sich Eltern über Joes Mätzchen, aber er hatte genug Fürsprecher, die das wieder ausglichen. Eine große Mehrheit von Eltern kämpfte darum, dass ihre Kinder in Mr Lewistons Klasse kamen. Sie freuten sich, wenn ihre Kinder Spaß an der Schule hatten und dass ein Lehrer mit Begeisterung bei der Sache war und seine Arbeit nicht nur als Routinejob betrachtete. Er war eben ganz das Gegenteil von Dolly.
    »Ich habe diesem Mädchen wirklich weh getan«, sagte er.
    »Aber das war doch keine Absicht. Und die anderen Kinder und ihre Eltern mögen dich immer noch.«
    Er sagte nichts.
    »Sie kommt darüber weg. Irgendwann ist das vergessen, Joe. Das wird schon wieder.«
    Seine Unterlippe fing an zu zittern. Seine ganze Welt war zusammengebrochen. Sosehr sie ihn auch liebte und wusste, dass er ein viel besserer Lehrer war als sie, wusste sie doch auch, dass er psychisch nicht besonders stabil und belastbar war, obwohl die meisten Menschen das glaubten. Er stammte aus einer großen Familie, war das jüngste von fünf Geschwistern,

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