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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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einen Antrag auf Vertagung. Wenn dem nicht stattgegeben wird, müssen Sie wieder hin.«
    »Das soll doch wohl ein Witz sein, oder?«
    »Nach allem, was Sie mir erzählt haben, können Sie hier sowieso nichts machen. Sie sind die ganze Zeit telefonisch erreichbar.
Ich lass Ihnen meinen Privatjet fertig machen, dann können Sie von Teterboro aus nach Bosten zurückfliegen.«
    »Wir sprechen hier über meine Familie.«
    »Genau, und ich spreche darüber, dass Sie ein paar Stunden von ihr getrennt sind. Sie werden nichts für das Wohlbefinden Ihres Mannes oder Ihres Sohnes tun können, wenn überhaupt, geht es höchstens um Ihr eigenes. Währenddessen habe ich es mit einem unschuldigen Menschen zu tun, der womöglich für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis geht, wenn wir das Ding verbocken.«
    Tia wollte auf der Stelle kündigen, bekam sich dann aber doch noch in den Griff und beruhigte sich so weit, dass sie sagte: »Versuchen Sie, die Vertagung durchzukriegen.«
    »Ich ruf zurück.«
    Tia beendete das Gespräch und sah das Handy in ihrer Hand an wie ein unschönes Geschwür. War das eben wirklich passiert?
    Als sie zu Mike ins Krankenhauszimmer kam, war Mo schon da. Die Fäuste in die Hüften gestemmt stapfte er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Er hatte Tränen in den Augen. »Ihm geht’s gut«, sagte er, als sie hereinkam. »Er ist grad wieder eingeschlafen.«
    Tia ging zu Mikes Bett. Die anderen beiden Betten im Zimmer waren auch belegt, die Patienten hatten aber gerade keinen Besuch. Als Tia Mikes Gesicht ansah, kam es ihr vor, als würde ihr jemand einen Betonklotz in den Bauch rammen.
    »O mein Gott …«
    Mo trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Das sieht schlimmer aus, als es ist.«
    Sie wollte ihm glauben. Sie hatte nicht gewusst, was sie erwartete, aber das? Sein rechtes Auge war zugeschwollen. Auf einer Wange war ein Schnitt wie von einem Rasiermesser, die andere war dick und dunkelblau angelaufen. Die Lippe war aufgeplatzt. Ein Arm steckte unter der Decke, am Unterarm des anderen sah sie jedoch zwei große Blutergüsse.

    »Was haben sie mit ihm gemacht?«, flüsterte sie.
    »Die sind schon so gut wie tot«, sagte Mo. »Hast du mich verstanden? Die finde ich, und ich schlag sie gar nicht erst zusammen. Ich bring sie gleich um.«
    Tia legte die Hand auf den Unterarm ihres Mannes. Ihr Mann. Ihr attraktiver, starker Ehemann. Sie hatte sich in Dartmouth in diesen Mann verliebt. Sie hatte das Bett mit ihm geteilt, Kinder mit ihm gezeugt, ihn als ihren Lebensgefährten ausgewählt. Natürlich dachte man nicht oft darüber nach, aber so war es einfach. Man wählte sich einen Mitmenschen aus, mit dem man sein Leben verbringen wollte  – eine erschreckende Vorstellung, wenn man richtig darüber nachdachte. Warum hatte sie zugelassen, dass sie sich auch nur ein klein wenig auseinanderlebten? Warum hatte sie die Routine zur Routine werden lassen und nicht jede Sekunde alles darangesetzt, ihr Zusammenleben zu verbessern und noch leidenschaftlicher zu machen?
    »Ich liebe dich so sehr«, flüsterte sie.
    Er blinzelte und öffnete die Augen. Sie sah, dass auch er Angst im Blick hatte  – und das war vielleicht das Schlimmste überhaupt. Seit sie Mike kannte, hatte sie ihn nie ängstlich gesehen. Sie hatte ihn auch nie weinen sehen. Wahrscheinlich weinte er schon gelegentlich, aber er gehörte zu den Männern, die das heimlich taten. Er wollte denen, die ihn brauchten, eine starke Schulter bieten, an die sie sich anlehnen konnten, und  – so altmodisch das auch klang – genau das brauchte sie.
    Er sah mit weit aufgerissenen Augen in die Luft, als sähe er dort einen imaginären Angreifer.
    »Mike«, sagte Tia. »Ich bin hier.«
    Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht, sie sahen sich an, aber die Angst verschwand nicht aus seinen Augen. Falls ihre Anwesenheit ihn beruhigte, merkte man es ihm nicht an. Tia nahm seine Hand.
    »Du wirst schon wieder«, sagte sie.

    Er sah ihr weiter in die Augen, und jetzt begriff sie es. Schon bevor er den Mund aufmachte, wusste sie, was er sagen würde.
    »Was ist mit Adam? Wo ist er?«

20
    Wieder sah Dolly Lewiston das Auto an ihrem Haus vorbeifahren.
    Es wurde langsamer. Wie beim letzten Mal. Und dem Mal davor.
    »Das ist er wieder«, sagte sie.
    Ihr Mann, Joe Lewiston, Lehrer in der fünften Klasse, sah nicht aus dem Fenster. Er konzentrierte sich etwas zu sehr auf die Korrektur der Klassenarbeiten.
    »Joe?«
    »Ich hab’s gehört,

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