Sie sehen dich
vor allem aber war
sein Vater zu dominant gewesen. Er hatte seinen jüngsten, liebenswürdigsten Sohn immer wieder herabgesetzt, woraufhin dieser auf die Ausweichstrategie verfallen war, immer komisch und unterhaltsam zu sein. Joe Lewiston war der beste Mann, den sie kannte, aber er war schwach.
Das störte sie nicht. Dann musste sie eben stark sein. Sie musste die Familie zusammenhalten – und die Welt ihres Mannes.
»Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe«, sagte Joe.
»Schon vergessen.«
»Du hast Recht. Das geht vorbei.«
»Genau.« Sie küsste ihn auf den Hals und dann auf den Punkt hinter dem Ohrläppchen, an dem er am liebsten geküsst wurde. Sie ließ die Zunge sanft kreisen. Dann wartete sie darauf, dass er leise stöhnte. Das passierte aber nicht. Dolly flüsterte: »Vielleicht solltest du einen Moment lang mit dem Korrigieren Pause machen, hm?«
Er zuckte ein kleines bisschen weg. »Ich, äh, muss das wirklich noch fertig machen.«
Dolly richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Als Joe Lewiston merkte, was er getan hatte, versuchte er die Situation zu retten.
»Könnte ich vielleicht später noch auf das Angebot zurückkommen?«, fragte er.
Das war ihr Spruch, wenn sie nicht in Stimmung war. Eigentlich eine ganz normale Ehefrauenmasche, oder? In dem Punkt war er immer der Fordernde gewesen –, da hatte er nie irgendeine Schwäche gezeigt – aber in den letzten Monaten, seit seinem »Versprecher«, wenn man das so nennen konnte, hatte sich auch das verändert.
»Natürlich«, sagte sie.
Dolly wandte sich ab.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Ich komm gleich wieder«, sagte sie. »Ich muss noch mal kurz
in den Supermarkt, und hinterher hol ich dann Allie ab. Dann kannst du in Ruhe die Arbeiten zu Ende korrigieren.«
Dolly Lewiston rannte die Treppe hoch, ging ins Internet, suchte Guy Novaks Adresse raus und sah im Routenplaner nach dem kürzesten Weg dahin. Sie checkte auch ihren E-Mail-Account in der Schule – da gab es immer irgendwelche Beschwerden von Eltern –, aber der funktionierte seit vorgestern nicht mehr.
»Meine E-Mails in der Schule funktionieren immer noch nicht«, rief sie nach unten.
»Ich guck mir das noch mal an«, antwortete er.
Dolly druckte die Wegbeschreibung zu Guy Novaks Haus aus, faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es in die Tasche. Auf dem Weg nach draußen küsste sie ihren Mann von oben auf den Kopf. Er sagte ihr, dass er sie liebte. Sie erwiderte, dass sie ihn auch liebte.
Dann schnappte sie sich ihren Schlüsselbund und machte sich auf den Weg zu Guy Novak.
Tia sah es in ihren Gesichtern. Die Polizisten nahmen Adams Verschwinden nicht ernst.
»Ich dachte, Sie könnten vielleicht eine Suchmeldung rausgeben oder so was«, sagte Tia.
Die beiden Polizisten vor ihr boten einen fast schon komischen Anblick. Ein winziger Lateinamerikaner in Uniform namens Guttierez und eine große Schwarze, die sich als Detective Clare Schlich vorgestellt hatte.
Schlich antwortete. »Ihr Sohn erfüllt nicht die Kriterien für eine Suchmeldung.«
»Warum nicht?«
»Wir bräuchten zumindest irgendwelche Anzeichen, die auf eine Entführung hindeuten.«
»Aber er ist sechzehn und wird vermisst.«
»Ja.«
»Was für Hinweise brauchen Sie denn noch?«
Schlich zuckte die Achseln. »Ein Zeuge wäre gut.«
»Es gibt nicht bei jeder Entführung Zeugen.«
»Das ist richtig, Ma’am. Trotzdem brauchen wir Hinweise auf eine Entführung oder die Androhung körperlicher Gewalt. Gab es etwas in der Art?«
Tia fand ihr Verhalten nicht direkt unverschämt – herablassend traf es wohl besser. Dann nahmen die beiden ganz vorschriftsgemäß ihre Meldung auf. Sie taten Tias und Mikes Besorgnis nicht als unbegründet ab, machten aber deutlich, dass sie nicht alles stehen und liegen lassen und den gesamten Polizeiapparat auf diesen Fall ansetzen würden. Clare Schlich verdeutlichte ihre Position mit ein paar gezielten Fragen und Rückfragen auf Mikes und Tias Äußerungen.
»Sie haben den Computer Ihres Sohnes ausspioniert?«
»Sie haben das GPS an seinem Handy aktiviert?«
»Sie waren so besorgt über sein Verhalten, dass Sie ihm in die Bronx gefolgt sind?«
»Er ist schon einmal ausgerissen?«
Ganz einfach. Tia gab den beiden Polizisten keine Schuld an der Situation, aber sie dachte nur daran, dass Adam verschwunden war.
Guttierez hatte vorher schon einmal mit Mike gesprochen. Er ergänzte: »Sie hatten gesagt, dass Sie Daniel Huff
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