Sie sehen dich
auf. Und wenn einem so etwas auffiel, achtete man nicht auf das Kennzeichen.
Sie stiegen wieder in den Wagen.
Bevor er Pietra kennen gelernt hatte, hatte Nash nie geglaubt, dass die Augen die »Fenster zur Seele« seien. Aber bei ihr war das ganz unverkennbar. Ihre Augen waren wunderschön, blau mit gelben Funken, trotzdem sah man, dass nichts dahinter war, dass jemand die Kerze ausgeblasen hatte und sie nie wieder entzündet werden konnte.
»Ich musste das tun, Pietra. Das verstehst du doch.«
Endlich sagte sie etwas. »Es hat dir Spaß gemacht.«
Das war keine Wertung. Sie kannte Nash schon so lange, dass er gar nicht versuchte zu lügen.
»Na und?«
Sie sah zur Seite.
»Was ist los, Pietra?«
»Ich weiß, was mit meiner Familie passiert ist«, sagte sie.
Nash sagte nichts.
»Ich habe gesehen, wie mein Sohn und mein Mann furchtbar gelitten haben. Und sie haben mich leiden sehen. Das war das Letzte, was sie vor ihrem Tod gesehen haben – wie ich mit ihnen litt.«
»Das weiß ich doch«, sagte Nash. »Und du hast Recht, dass mir das Spaß gemacht hat. Aber normalerweise macht es dir auch Spaß, oder?«
Sie antwortete ohne zu zögern. »Ja.«
Die meisten Leute glaubten, es müsste umgekehrt sein – dass das Opfer so grausamer Gewalt einen natürlichen Widerwillen gegen jedes weitere Blutvergießen entwickelte. Aber so lief das in Wirklichkeit nicht. Gewalt brachte neue Gewalt hervor – aber nicht nur die übliche Rache oder Vergeltung. Das geschändete Kind wuchs zu einem Kinderschänder heran. Der Sohn, der traumatisiert war, weil er Zeuge der Misshandlungen geworden war, die sein Vater seiner Mutter zugefügt hatte, schlug aller Wahrscheinlichkeit nach seine Frau.
Warum?
Warum lernten wir Menschen nie die Lektion, die wir lernen müssten? Welcher Teil in unserem Bauplan zog uns dahin, wo wir krank werden mussten?
Pietra hatte nach ihrer Rettung auf Rache gesonnen. Während sie sich langsam erholte, konnte sie an nichts anderes denken. Drei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatten Nash und Pietra einen der Soldaten ausfindig gemacht, der ihre Familie gefoltert hatte. Er war allein gewesen. Nash hatte ihn gefesselt und geknebelt. Er hatte Pietra die Rosenschere gegeben und sie mit ihm allein gelassen. Es hatte drei Tage gedauert, bis der Soldat tot war. Schon am Ende des ersten Tags hatte er Pietra angefleht, ihn zu töten. Sie hatte ihm den Wunsch nicht erfüllt.
Sie hatte jeden Augenblick genossen.
Im Nachhinein hielten die meisten Menschen Rache für eine unerfüllbare Empfindung. Sie kamen sich leer vor, nachdem sie einem anderen Menschen etwas so Schreckliches angetan hatten, selbst wenn dieser Mensch das verdient hatte. Bei Pietra war das anders. Nach dieser Erfahrung war ihr Verlangen sogar noch
gewachsen. Und das war einer der Hauptgründe dafür, dass sie heute bei ihm war.
»Und was ist hier jetzt anders?«, fragte er.
Nash wartete lange. Dann antwortete sie doch noch.
»Das Unwissen«, sagte Pietra mit gedämpfter Stimme. »Die ewige Unsicherheit. Jemandem Schmerzen zufügen, das machen wir einfach.« Sie schaute sich im Lagerraum um. »Aber einen Mann den Rest seines Lebens in der Unsicherheit lassen, was mit seiner geliebten Frau passiert ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Das finde ich viel schlimmer.«
Nash legte ihr eine Hand auf den Arm. »Daran lässt sich jetzt erst mal nichts ändern. Das verstehst du doch, oder?«
Sie nickte und sah stur geradeaus. »Aber irgendwann?«
»Ja, Pietra. Irgendwann. Wenn das erledigt ist und wir das alles hinter uns haben, dann sagen wir ihm irgendwie die Wahrheit.«
22
Als Guy Novak wieder in seine Einfahrt einbog, hatte er die Hände in der Zehn-vor-Zwei-Position. Er hatte das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß geworden waren. Er saß nur da, hatte den Fuß noch auf der Bremse, und sehnte sich so sehr nach einer anderen Empfindung als dieser unglaublichen Ohnmacht, die ihn gerade erfüllte.
Er betrachtete sich im Rückspiegel. Sein Haar wurde dünner. Der Scheitel wanderte langsam weiter zum Ohr. Es war noch nicht so weit, dass er die Haare offensichtlich über eine Glatze kämmte, aber fing es nicht immer so an? Der Scheitel rutschte so langsam weiter herunter, dass man die tagtäglichen oder wöchentlichen Veränderungen gar nicht bemerkte, und ehe man sich’s versah, kicherten die Leute hinterm Rücken über einen.
Guy starrte den Mann im Spiegel an und konnte nicht glauben,
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