Sie sehen dich
nicht traute, der Frau ihres Peinigers entgegenzutreten.
Sie blieb stehen und fuchtelte mit ausgestrecktem Zeigefinger direkt vor seinem Gesicht herum. »Halten Sie sich von meinem Haus fern, verstanden?«
Es dauerte einen Moment, bis er seine Gedanken sortiert hatte. »Wissen Sie, was Ihr Mann meiner Tochter angetan hat?«
»Er hat einen Fehler gemacht.«
»Er hat sich über ein elfjähriges Mädchen lustig gemacht.«
»Ich weiß, was er getan hat. Es war dumm. Es tut ihm furchtbar leid. Sie haben ja keine Vorstellung, wie sehr er darunter leidet.«
»Er hat meiner Tochter das Leben zur Hölle gemacht.«
»Und jetzt wollen Sie uns das Gleiche antun?«
»Ihr Mann sollte kündigen«, sagte Guy.
»Wegen eines dummen Versprechers?«
»Er hat ihr die Kindheit genommen.«
»Jetzt werden Sie mal nicht melodramatisch.«
»Erinnern Sie sich wirklich nicht mehr daran, wie das damals war – für den Außenseiter der Klasse, das Kind, das Tag für Tag gehänselt wurde? Meine Tochter war glücklich. Sie war nicht perfekt, nein. Aber glücklich. Und jetzt …«
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid. Das meine ich ganz ernst. Trotzdem halten Sie sich ab sofort von meiner Familie fern.«
»Wenn er sie geschlagen hätte, ihr eine Ohrfeige verpasst hätte oder so was, dann wäre er hochkant rausgeflogen. Dabei ist das, was er Yasmin angetan hat, viel schlimmer.«
Dolly Lewiston verzog das Gesicht. »Sind Sie noch ganz dicht?«
»Das lass ich nicht einfach so durchgehen.«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Dieses Mal wich er nicht zurück. Ihre Gesichter waren nur noch etwa dreißig Zentimeter voneinander entfernt. Sie flüsterte: »Glauben Sie wirklich, eine Beleidigung wäre das Schlimmste, was Ihrer Tochter passieren kann?«
Er öffnete den Mund, bekam aber nichts heraus.
»Mr Novak, Sie versuchen, meine Familie zu zerstören. Meine Familie. Die Menschen, die ich liebe. Mein Mann hat einen Fehler gemacht. Er hat sich dafür entschuldigt. Aber Sie suchen trotzdem Rache. Und wenn das so bleibt, werden wir uns verteidigen.«
»Wenn Sie über einen Prozess sprechen …«
Sie gluckste: »O nein«, flüsterte sie dann weiter. »Ich spreche nicht über Gerichte.«
»Worüber dann?«
Dolly Lewiston legte den Kopf auf die Seite. »Sind Sie jemals in eine tätliche Auseinandersetzung geraten, Mr Novak?«
»Ist das eine Drohung?«
»Das ist eine Frage. Sie haben gesagt, was mein Mann getan hat, wäre schlimmer als ein tätlicher Angriff. Ich kann Ihnen versichern, Mr Novak, dass das nicht stimmt. Ich kenne da ein paar Leute. Wenn ich denen Bescheid sage – ich brauche nur anzudeuten, dass mir jemand Schaden zufügen will –, dann kommen die nachts vorbei, wenn Sie schlafen. Wenn Ihre Tochter schläft.«
Guys Mund war trocken. Er versuchte, seine Knie davon abzuhalten, zu Gummi zu werden.
»Das klingt eindeutig nach einer Drohung, Mrs Lewiston.«
»Es ist aber keine. Es ist eine Tatsache. Wenn Sie uns angreifen wollen, werden wir nicht einfach so auf dem Arsch sitzen bleiben und Sie gewähren lassen. Ich werde alles auffahren, was in meiner Macht steht. Haben Sie das verstanden?«
Er antwortete nicht.
»Tun Sie sich einen Gefallen, Mr Novak. Kümmern Sie sich um Ihre Tochter, nicht um meinen Mann. Lassen Sie’s gut sein.«
»Das werde ich nicht.«
»Dann stehen Sie erst ganz am Anfang Ihrer Leidensgeschichte.«
Dolly Lewiston drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Guy Novak zitterten die Beine. Er blieb stehen und sah ihr nach, als sie in ihren Wagen stieg und wegfuhr. Sie drehte sich nicht noch einmal um, trotzdem konnte er ein Lächeln auf ihrem Gesicht sehen.
Die ist doch übergeschnappt, dachte Guy.
Aber was bedeutete das für ihn? Sollte er klein beigeben? Hatte er nicht sein ganzes erbärmliches Leben lang immer wieder klein beigegeben? War das nicht die ganze Zeit schon das Problem – dass er ein Mann war, den man schikanieren konnte?
Er öffnete die Eingangstür und ging ins Haus.
»Alles in Ordnung?«
Das war Beth, seine neueste Freundin. Sie versuchte mit aller Macht, ihm zu gefallen. Das taten sie alle. In seiner Altersgruppe herrschte großer Männermangel, daher versuchten fast alle alleinstehenden Frauen den Männern zu gefallen, ohne dabei allzu verzweifelt zu erscheinen – und das gelang den meisten nicht ganz. So war das mit der Verzweiflung. Man konnte sie maskieren und verstecken, nach einer Weile kam ihr Geruch trotzdem immer wieder durch.
Guy
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