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Titel: Sie sehen dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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dass er das war. Trotzdem würde der Scheitel immer weiter nach unten wandern. Das wusste er. Die langen Strähnen waren immer noch besser als der Chromglanz oben auf dem Kopf.
    Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad, drückte den Schalthebel auf Parken und machte den Motor aus. Dann sah er sich den Mann im Rückspiegel noch einmal kurz an.
    Erbärmlich.
    Kein richtiger Mann. Ganz und gar nicht. Langsam an einem Haus vorbeizufahren … Was musste das für ein harter Kerl sein. Jetzt zeig doch mal ein bisschen Mumm, Guy  – oder hast du Angst, dem Schwein was anzutun, das die Zukunft deiner Tochter auf dem Gewissen hat?
    Was für ein Vater war das? Was für ein Mann?
    Ein erbärmlicher.
    Ja, natürlich hatte Guy sich beim Rektor beschwert, er hatte gepetzt wie ein kleines Kind. Der Rektor hatte die angemessenen verständnisvollen und mitfühlenden Laute von sich gegeben und dann wie erwartet gar nichts getan. Lewiston unterrichtete noch immer. Er fuhr abends noch immer nach Hause, gab seiner hübschen Frau einen Kuss und hob dann vermutlich eine kleine Tochter hoch in die Luft und lauschte ihrem Kichern. Guys Frau, Yasmins Mutter, hatte sie verlassen, als Yasmin noch keine zwei Jahre alt war. Die meisten Leute gaben seiner Ex die Schuld daran, dass sie die Familie verlassen hatte, aber in Wahrheit war er nicht Manns genug gewesen. Also war seine Ex mit anderen Männern ins Bett gegangen, und nach einer Weile war es ihr dann auch egal gewesen, ob er das merkte.
    Das war’s dann mit seiner Frau gewesen. Er hatte nicht die Kraft gehabt, sie festzuhalten. Okay, das war eine Sache.
    Aber jetzt ging es um seine Tochter.
    Yasmin, seine entzückende Tochter. Das einzig Mannhafte, was er je im Leben vollbracht hatte  – seinem Kind ein Vater zu sein.
Seine Tochter großzuziehen. Ihr wichtigster Haltepunkt im Leben zu sein.
    War es denn nicht seine wichtigste Lebensaufgabe, sie zu beschützen?
    Gute Arbeit, Guy.
    Und jetzt hatte er nicht einmal den Mut, für sie zu kämpfen. Was hätte Guys Vater dazu gesagt? Er hätte gespottet und ihn so angesehen, dass Guy sich vollkommen wertlos vorkam. Er hätte ihn einen Waschlappen genannt, denn George Novak hätte allen Beteiligten mit ein paar kräftigen Schlägen das Licht ausgeblasen, wenn man seiner Familie zu nahe getreten wäre.
    Und genau das Gleiche hätte Guy auch gern getan.
    Er stieg aus und ging zur Tür. Seit zwölf Jahren wohnte er mittlerweile hier. Er erinnerte sich noch, wie er Hand in Hand mit seiner Frau zum ersten Mal auf dieses Haus zugegangen war und wie sie ihn dabei angelächelt hatte. Hatte sie damals schon hinter seinem Rücken mit anderen Männern herumgebumst? Wahrscheinlich. Noch Jahre nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte Guy sich gefragt, ob Yasmin wirklich seine Tochter war. Er hatte versucht, den Gedanken beiseitezuschieben, sich einzureden, dass es keine Rolle spielte, und die Zweifel, die an ihm nagten, zu ignorieren. Aber irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten. Vor zwei Jahren hatte Guy heimlich einen Vaterschaftstest machen lassen. Drei quälende Wochen vergingen, bis er das Ergebnis in der Hand hatte, aber am Ende war es das wert gewesen.
    Yasmin war sein Kind.
    Vielleicht klang auch das erbärmlich, aber seit er die Wahrheit kannte, war er ein besserer Vater. Er achtete darauf, dass sie glücklich war. Er stellte ihre Bedürfnisse über seine. Er liebte Yasmin und kümmerte sich um sie und behandelte sie nie herablassend, so wie sein Vater es mit ihm gemacht hatte.
    Aber er hatte sie nicht beschützt.
    Er blieb stehen und betrachtete das Haus. Wenn er es verkaufen
wollte, konnte ein bisschen frische Farbe nicht schaden. Die Sträucher mussten auch zurückgeschnitten werden.
    »Hey!«
    Eine ihm unbekannte Frauenstimme. Guy drehte sich um und blinzelte ins Sonnenlicht. Er war verblüfft, als er Lewistons Frau aus einem Wagen steigen sah. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut. Sie kam auf ihn zu.
    Guy stand wie angewurzelt da.
    »Was soll der Scheiß?«, fuhr sie ihn an. »Warum fahren Sie so langsam an meinem Haus vorbei?«
    Guy, der nie besonders schlagfertig gewesen war, antwortete: »Das ist ein freies Land.«
    Dolly Lewiston blieb nicht stehen. Sie kam so schnell auf ihn zu, dass er Angst bekam, sie würde ihn schlagen. Er hob tatsächlich die Hände zur Abwehr und trat einen Schritt zurück. Jetzt war er wieder ganz der erbärmliche Schwächling, der nicht nur Angst davor hatte, sich für seine Tochter einzusetzen, sondern sich auch

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