Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
Religionslehrer ins Bild setzte, was das Verhältnis zu Letzterem schlagartig schock-frostete und mich umgehend aus der Prie-sterlaufbahn katapultierte.
Die Rekordumsätze von Büchern wie
Schotts Sammelsurium und ähnlichen Kom-pendien nutzlosen Wissens belegen, dass zahllose meiner Epigonen sich heute gleich-falls lieber mit bizarren Fakten munitionie-ren, um sie in die gesellige Runde zu feuern, wenn’s passt, statt den Bizeps aufzupumpen oder das Genital vergrößern zu lassen. Das Dumme an umfassender Bildung ist, dass sie in alltäglichen Situationen nach wie vor zu selten abgefragt wird, der passionierte Bildungshuber, vulgo Klugscheißer muss al-so sehen, dass er sein Wissen wie selbstverständlich einfließen lässt. Lassen Sie mich 53
das an einem konkreten Beispiel erläutern.
Folgendes Setting: Ich sitze (sie!) mit einer Dame in einem, sagen wir, chinesischen Restaurant. Ich möchte die Dame so beeindrucken, dass sie nicht umhinkommt, mir gen Ende des Abends den Beischlaf aufzu-drängen.
Sie: »Schönes Lokal.«
Ich: »Ich hoffte, dass es Ihnen gefällt, ich liebe besonders die Drucke dort drüben, sie zeigen Werke aus der Song Dynastie, zwischen dem 10. und 13. Jh. als die Tuschma-lerei sich zu höchster Blüte entwickelte.
Wussten Sie übrigens, dass tuschen, also schwarze Farbe auftragen, entlehnt ist aus dem französischen toucher, berühren?«
Während ich das sage, berühre ich ihre Hand, sie zieht sie scheu zurück, natürlich nur, weil gerade der Kellner auftaucht.
Kellner: Haben gewählt?
Sie: Ich hätte gern die 52.
Ich: Ich möchte gern die acht Kostbarkeiten, bitte sagen Sie dem Koch, er möchte kein Glutamat verwenden und dann …
Kellner: Welche Nummer?
Ich, seufzend: 218. Und statt Reis Bratnu-deln bitte.
Kellner: Nummer?
Ich: Suchen Sie sich eine aus.
Der Kellner geht kopfschüttelnd ab. Was soll’s, ich will ja nicht mit ihm intim werden. Noch über meinen kleinen Reim
schmunzelnd, sage ich: »Wussten Sie eigentlich, dass der Begriff Nummer erst im 16. Jh. aus der italienischen Kaufmanns-sprache ins Deutsche übernommen wurde, 54
unter anderem in die Zirkus- und Variete-sprache einging, wo die einzelnen Darbie-tungen nummeriert sind, die große, also die letzte Nummer ist der Höhepunkt, das heißt für mich natürlich immer: lange warten.
Nummer ist also ganz schön polysem, also mehrdeutig. Woher allerdings die erotische Konnotation von Nummer stammt, ist mir nicht geläufig.« Gut gemacht, alter Junge, ruhig mal so tun, als ob man was nicht weiß, um nicht als Übermensch dazustehen.
Sie: Häh?
Ich: »Na gut. Wussten Sie eigentlich, dass Goethes Gedicht ›Über allen Wipfeln ist Ruh / in allen Wipfeln spürst du kaum einen Hauch. / Die Vöglein schweigen im Walde,
/ warte nur balde, / ruhest du auch‹ eine abenteuerliche Odyssee hinter sich hat? Es wurde ins Japanische übertragen, von dort in der Annahme, es wäre ein Original, ins Französische und von da wiederum ins
Deutsche. Da hieß es dann: ›Stille ist im Pa-villon aus Jade. / Krähen fliegen stumm zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht. /
Ich sitze und weine.‹«
Was ist das? Sie sieht aus dem Fenster, ihre schmalen Schultern beben, ja zucken fast.
Eine Träne zieht ihre feuchte Spur in ihre Wange. Gewiss, ich bin verdammt gut im Rezitieren, aber dass sie das so mitnimmt …
Sie wendet sich mir zu, lächelt, ich nehme ihre Hand, sie lässt es nur zu gern geschehen. Wussten Sie eigentlich, kichert sie, dass gerade Ihr Auto abgeschleppt worden ist?
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SIE Schämen
Wenn man einen Mann darauf aufmerksam macht, dass sein Hosenstall offen ist, und mit Blick auf die Stalltür bemerkt: Na, Wer-bewoche?, kann man lustige Reaktionen erleben, von peinlich berührt bis verlegen humorig, aber immer auch mit einer leichten Rötung der Wangen kombiniert. Dieser
vollautomatische Färbeprozess mitten im Gesicht ist durch nichts zu verhindern und für alle sichtbar. Er ist das Ergebnis einer chemischen Keule, die man sich anschei-nend selbst, von innen her, vor den Schädel haut. Diese körpereigene Nahkampfattacke wird ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter, Einkommen und Ausbildung geführt, und sie kann jeden treffen, sogar den Papst.
Das Schämen ist eine sonderbare Energie des Menschen. Sie pfuscht einem genauso ins tägliche Handwerk wie das Unterbe-wusstsein. Sie kommt so überraschend ans Tageslicht wie ein Freudscher Versprecher, düpiert ruck, zuck die eigene Persönlichkeit und lässt sie
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