Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
mit rotem Kopf total verunsi-chert zurück. Sie taucht immer dann ziel-strebig auf, wenn man beim Lügen oder kleinen Betrügereien erwischt wird oder wenn man sich entgegen dem gesellschaftlichen Kodex unvermittelt triebhaft oder ob-szön präsentiert hat. Zur Strafe pumpt die Schämenergie augenblicklich soviel Blut in den Kopf, wie ihr für die Schwere des Vergehens angemessen erscheint. Eine offene Hose kommt meist mit hellrosa davon, sich in eine Torte setzen oder dem Spielpartner 56
in die Karten gucken zieht schon hellrot nach sich, und die Selbstpräsentation als Vollidiot hat die rot leuchtende Glühbirne zur Folge, die über das ganze Land hinweg erstrahlt.
Der begossene Pudel ist nur ein milder Vergleich zum menschlichen Schämzustand, denn dieser wird noch zusätzlich dadurch gekrönt, dass man kurzfristig zur Salzsäule erstarrt. Auf ganzer Linie und auf allen Ebenen, also körperlich, seelisch und geistig, reagiert man allergisch, und zwar auf sich selbst. Man möchte sich am liebsten fristlos kündigen, rauswerfen, feuern, und wäre heilfroh, sich nie kennengelernt zu haben.
Durch Hervorbringen dieses einmaligen Zustands macht die Schämschaltzentrale augenblicklich und unmissverständlich klar, dass dieses gerade eben missglückte Verhalten in Zukunft auf dem Index steht.
Diese Rückrufaktion zur Korrektur der er-brachten Eigenleistung ist eigentlich wunderbar und ungefähr so, als ob sich Fußballspieler nach einem Foul selbst vom Platz stellten. Aber damit ist es der automatischen inneren Selbstkontrolle nicht genug. Sie verankert das Schämerlebnis gnadenlos in allen möglichen Gehirninstanzen, um gegen den Wiederholungsfall Vorsorge zu treffen.
Wenn ich z. B. den Namen Ilona höre, wird mir immer noch unwohl, und das seit Jahr-zehnten. Mit diesem weiblichen Vornamen ist mein fürchterlichstes Schämerlebnis verbunden. Ilona war eine Nervensäge im Dau-ereinsatz und saß im Konfirmandenunterricht links neben mir. Es überkam mich 57
überraschend. Wohl in der Annahme, sie würde wie ein Luftballon platzen, piekste ich sie mit einer Stecknadel in den Po, und das ausgerechnet vor den Augen des Pa-stors, dem Vertreter Gottes. Ich versank sofort in den kirchlichen Grund und Boden vor lauter Scham.
Mein Vergehen kam mir wie Hochverrat am Christentum vor, und meine Stammzellen tobten, als wollten sie mich rückgängig machen. Komischerweise habe ich seitdem nie wieder eine weibliche Person mit Namen Ilona kennengelernt.
ER Schämen
Ein beliebtes Spiel unter unreifen Psychologen ist: den Zytokinmotor ankurbeln. Das heißt, jemanden bloßstellen, ihn dazu bringen, sich zu schämen. Wenn wir bei einem Galadiner einen Nachrichtensprecher laut über den Tisch hinweg fragen: Hast du eigentlich mittlerweile was wegen deiner Phimose unternommen, und ihm dann, noch während er das ganze Spektrum der Rottöne auslotet, eine Speichelprobe entnehmen, wird die Untersuchung eine hohe Konzentration von proinflammatorischen Zytokinen sowie Interleukin-1 und Tumor-Nekrose-Faktor alpha ergeben, allesamt Botenstoffe der Immunzellen, die Entzündungen anfa-chen und die Abwehrkräfte regulieren. Man fühlt sich schlapp, will ins Bett, das ist auch von der Natur gewollt, damit der Organis-mus sich auf die eingedrungenen Keime konzentrieren kann. Genauso und, wie wir 58
jetzt wissen, aus demselben körperchemischen Grund will der Mensch, wenn er sich schämt, vom Erdboden verschwinden, er-satzweise ins Bett. Wenn man »schämen«
als »wie der Depp dastehen« versteht, schä-
men sich übrigens auch Tiere. Man hat he-rausgefunden, dass sozial untergeordnete Tiere, die mit einem überlegenen Artgenossen zusammengesperrt werden, eine unterwürfige Demutshaltung annehmen. In ihrem Blut finden sich auch die weiter oben er-wähnten Botenstoffe. Das wunderbare Wort
»Der Mensch ist das einzige Tier, das sich schämen kann, und er hat auch als Einziger Grund dazu« stimmt also nicht, worauf Sie beim nächsten gesellschaftlichen Anlass schonmal hinweisen können (vgl. Angeben).
Als Kind litt ich unter häufigem Erröten, d. h. meine Blutbahnen wurden alle nasen-lang von Zytokinen und Konsorten über-schwemmt. Natürlich sagte sich der Orga-nismus irgendwann, als ich eine Grippe kriegte und die Zytokine ihr nützliches Werk in Angriff nehmen wollten: Ihr könnt mich mal, das Weichei ist doch nur mal wieder rot geworden, weil er an die Tafel musste und verkackt hat, von wegen Im-munabwehr. Von da an lag ich häufig mit
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