Sie und Er
die Stirn, die Augen, den Mund.
»Hey«, sagt er, da ihm sonst nichts einfällt.
Sie kommt noch näher, aber immer noch liegt ein Abstand zwischen ihnen, in dem es pulsiert, vibriert.
Er versucht gar nicht, auf sie zuzugehen oder sie an sich zu ziehen: Er ist total versunken in das Hin und Her der unausgesprochenen Empfindungen.
Mit leuchtenden Augen macht sie einen Schritt rückwärts, atmet tief.
Auch er weicht zurück, lehnt sich an die Wand, holt Luft.
»Versuchen wir zu schlafen?«, sagt sie unsicher in fragendem Ton, plötzlich verletzlich.
»Ja«, antwortet er; die Vorstellung zu schlafen kommt ihm seltsam vor, wie der ganze Rest.
Sie lächelt, macht eine ausladende Handbewegung, durchquert erneut das Zimmer, geht die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, verschwindet.
Er könnte ihr nach oben folgen, denkt er, sie am Arm packen und an sich ziehen, sie drücken und küssen, ihr elektrisierende Worte sagen, mit ihr aufs Bett fallen; aber es wäre ein Verbrechen, auf welche Weise auch immer den namenlosen Zauber zu brechen, den sie gerade erlebt haben.
Morgens im Zug wissen sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollen
Morgens im Zug wissen sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollen, mit welchem Abstand, welchem Ausdruck sie sich begegnen sollen. Zwischen ihnen liegt ein Raum voller nicht erklärter Gesten und nicht geschehener Dinge, ausgesprochener Eindrücke und vorenthaltener Informationen: Das kompliziert den minimalen Blickkontakt, dehnt ihn, beschleunigt ihn, führt zu widersprüchlichen Reaktionen. Die Brutalität, mit der sie der Wecker aus dem zu kurzen Schlaf gerissen hat, war gewiss nicht hilfreich, ebenso wenig wie die hastige Fahrt zum Bahnhof hinunter, das Rattern auf den Gleisen, das grelle Licht und die erstickende Hitze im Abteil und jetzt der Anruf von Stefano, der den Kontrollverlust nicht mehr aushält. Er überschüttet sie mit Anklagen und Vorwürfen, was das Kopfweh verschlimmert, mit dem sie aufgestanden ist. Sie drückt das Handy an die Schläfe, geht auf den Gang hinaus, wo es noch lauter ist, versucht zuzuhören, während sie die Landschaft betrachtet, die vor dem Fenster vorbeizieht, immer wieder unterbrochen vom staubigen Dunkel der Tunnels, in denen die Verbindung jedes Mal abbricht. Jedes Mal ruft Stefano wieder an, wutentbrannt, als sei sie auch an den Unterbrechungen schuld, abgesehen davon, dass sie nicht auf seine nächtlichen Anrufe und sms reagiert hat. Sie sah sie erst, als sie in den Zug stieg: die verschiedenen Wo bist du? und Rufst du mich zurück? und Es ist i Uhrj$, meldest du dich bitte? und Es ist Viertel nach zwei, wo zum Teufel steckst du? und Es ist j Uhr morgens Chiara soll ich die Polizei rufen oder was? Es war auch eine sms von Alberto dazwischen: Ich weiß du bist auf dem strandfest in sori kompliment großartig hast mich in 2 Sekunden aus deinem leben geschmissen wegen so kleiner sache die jedem passieren kann treibst dich mit dem erstbesten herum wie eine hure wirklich zum kotzen. Diese Nachricht hat sie sofort gelöscht, sie war zu unangenehm; als Stefano mit seinen Rückrufen fertig ist, löscht sie auch seine.
Als sie ins Abteil zurückkommt, hat Daniel Deserti den Kopf an die Scheibe gelehnt, die Knie angezogen und die Füße gegen den metallenen Abfallbehälter gestemmt. Sein Hemd ist zerknittert, er hat sich nicht rasiert und auch nicht geduscht, seine strähnigen, verklebten Haare sind noch voller Salz. Einen Augenblick lang wendet er ihr den Kopf zu; aber sie tragen beide eine Sonnenbrille, hinter der sich ihre Blicke verbergen.
Sie setzt sich wieder auf ihren Platz, stöpselt die Ohrhörer des alten Discman ein, den sie hartnäckig weiterbenutzt, obwohl Stefano und seine Arbeitskollegen sie ständig damit aufziehen, wie veraltet er ist. Aber sie mag es nicht, ein funktionierendes Gerät wegzuwerfen, nur weil es einen technologischen Sprung gegeben hat; außerdem mag sie lieber echte CDs mit ihren Hüllen und Covern als aus dem Internet heruntergeladene Dateien. Leider hat sie jetzt nur eine in ihrem kleinen Rucksack, Cajun-Musik aus Louisiana, die gar nicht zu ihrem Gemütszustand passt. »C’est le hippie Cajot qui a vole mon capot«, singt die klagende Stimme in dem seltsamen Französisch der Enklave zum wilden Rhythmus von Akkordeon, Bass, Elektrogitarre und Schlagzeug. »Quand il a vu que j’etais chaud il a ra-meine mon capooot…« Sie schaltet den Player ab, verstaut ihn wieder im Rucksack. Immer wieder tauchen in ihrem
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