Sie und Er
Schritte, die Stefano in letzter Zeit unternimmt, an seine sehr konkreten Pläne, an seine ehrlichen, gradlinigen Angebote für ein gemeinsames Leben. Es wäre ein Verbrechen, eine Zukunft mit einem zuverlässigen und konsequenten Mann, dessen Stärken und Schwächen sie gut kennt, aufs Spiel zu setzen, um wirren Empfindungen nachzugeben, die einer in ihr ausgelöst hat, über den sie fast nichts weiß, um zuletzt ziemlich garantiert gegen eine Wand von Enttäuschung zu prallen. Das hat sie schon einmal erlebt, als sie mit Luigi verheiratet war und Alberto getroffen hat, und das Resultat war verheerend. Wenn sie es jetzt bedenkt, so hat diese Flucht vor der Normalität ihr viel weniger gebracht als das stabile Leben, aus dem sie davongelaufen ist: Wahrscheinlich hinterlassen Nähe und Verständnis, gemeinsame Projekte und der Alltag zu zweit im Lauf der Jahre tiefere Spuren als der Überschwang des Augenblicks. Das einzig Richtige ist also, die Stimmungsturbulenzen, die Daniel Deserti in ihr geweckt hat, abklingen zu lassen und zuzusehen, wie sie sich verflüchtigen. Eigentlich ganz einfach, wenn auch traurig: ein simples Ad-acta-Legen. Etwa zwanzig Sekunden lang fühlt sie sich beinahe heiter, beinahe weise, beinahe im Einklang mit ihrem Gewissen. Gleich darauf denkt sie, das wahre Verbrechen wäre aber, die Gelegenheit einer möglichen Begegnung verwandter Seelen verstreichen zu lassen, auf die Intensität zu verzichten, die sie immer gesucht hat, in jedem Roman, den sie gelesen, in jedem Lied, das sie gehört hat, und sich mit der Vernünftigkeit der Vorhersehbarkeit, der Risikolosigkeit abzufinden. Sie ist noch unruhiger als zuvor, der innere Widerstreit wird immer heftiger; ihre Überzeugungen kommen und gehen, ihr wird bewusst, dass sie sich kein bisschen darauf verlassen kann.
Der Verlag hat ein Telefoninterview mit einer türkischen Literatur Zeitung für ihn organisiert
Der Verlag hat ein Telefoninterview mit einer türkischen Literaturzeitung für ihn organisiert; Roberta Colajanni hat ihn drei Mal angerufen, bis sie ihn dazu überreden konnte, und dann noch zwei Mal, um sicherzugehen, dass er sich daran erinnerte. Dennoch fällt es ihm erst jetzt wieder ein, als das Telefon klingelt, während er den dritten Satz eines Quartetts von Haydn anhört, auf das Sofa im Wohnzimmer gelümmelt, die dunkle Killerbrille auf der Nase, um das Licht abzuhalten, das durchs Fenster fällt. Eine weibliche Stimme sagt auf dem Anrufbeantworter: »Signor Daniel Deserti, hier spricht Media Mihriban, wir sollten heute Morgen ein Interview machen?«, so als wäre es schon eine Nachricht aus der Vergangenheit, voller Bedauern darüber, dass sie wahrscheinlich Tage oder sogar Wochen zu spät abgehört werden würde.
Er nimmt das schnurlose Telefon von der Ladestation und antwortet: »Hier bin ich«, in einem Ton, der klarmachen sollte, wie viel Mühe es ihn kostet.
Die Interviewerin am anderen Ende spricht ein ziemlich gutes Italienisch, das sie, nach dem Akzent zu urteilen, vermutlich an der Universität Perugia gelernt hat; sie beginnt, ihm Fragen zum Erscheinen der Übersetzung seiner Notizen aus dem Nichts in der Türkei zu stellen.
Er schöpft aus seinem Repertoire automatischer Antworten, während er im Wohnzimmer auf und ab geht, ist aber doch erstaunt, dass er sich überhaupt nicht mehr erinnern kann, warum er dieses Buch geschrieben hatte. Was ihm vor allem in den Sinn kommt, sind die ständigen Streitereien mit einer Frau, die er schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr liebte: die krankhaften Eifersuchtsszenen, die zerbrochenen Teller, die umgeworfenen Möbel, die schlaflosen Nächte, die verdorbenen Reisen, die quälenden Fragen, die anstrengenden Antworten, die nutzlosen Erklärungen, die Beziehungspausen, die Zeitverschwendung.
Die Interviewerin ist offenbar ehrlich überzeugt, mit einer der Säulen der zeitgenössischen europäischen Literatur zu sprechen: Ihre Fragen sind äußerst respektvoll, äußerst gut vorbereitet, sorgfältig strukturiert. Dahinter stehen ein akademisches Studium und psychologische Einfühlungsgabe, mehrfache gründliche Lektüre seiner Bücher, unterfüttert mit den Meinungen einflussreicher Kritiker und gewichtigen Zitaten. »Signor Deserti«, sagt sie, »worauf ist die auffällige Veränderung im Erzählduktus zwischen dem Blick des Hasen und Notizen aus dem Nichts zurückzuführen?«
»Worauf was zurückzuführen ist?« Plötzlich ziehen einige Bilder und
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