Sie und Er
Florenz gelebt hat und sich ziemlich gut mit italienischen Männern auskennt, so gut, dass sie sich irgendwann einen Kanadier gesucht hat und mit ihm auf eine winzig kleine Insel zwischen Vancouver und Victoria gezogen ist. Seit es Prepaid-Telefonkarten und Skype gibt, haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten der Schwestern unglaublich erweitert, im Vergleich zu den Blitzgesprächen, die sie bis vor einigen Jahren führten, einmal im Monat zwei bis drei Minuten, mit der Uhr im Blick und dem Fuß, der die Sekunden klopfte. Mittlerweile reden sie, so lange sie wollen, sie müssen sich nur über die sechs, sieben oder acht Stunden Zeitverschiebung verständigen, die je nach Jahreszeit und Schwester dazwischenliegen. Zur kanadischen Westküste beträgt der Unterschied jetzt sogar neun Stunden, für Clare in ihrem Zimmerchen in Mailand ist es jetzt elf Uhr abends, für Paula in ihrem Wohnzimmer mit Blick auf das Grün der Lichtung und das glitzernde Wasser hinter den Bäumen ist es zwei Uhr nachmittags.
Paula trägt ein graues Hemdchen, heute hat sie es ausnahmsweise nicht eilig, bevor sie ihren Dienst beim mobilen Veterinärservice antritt, für den sie arbeitet. »Hey, du siehst super aus, Clarie-Pony«, sagt sie, zum Bildschirm ihres Computers gebeugt.
»Hier ist eine Affenhitze«, antwortet Clare, bemüht, sich nicht von ihrem eigenen Bild in dem kleinen Kästchen auf dem Bildschirm ablenken zu lassen.
»Hier auch.« Paula lächelt, lehnt sich zurück. Jedes Mal, wenn sie sich bewegt, löst sich ihr Gesicht im Spiel von Licht und Schatten in Pixel auf und braucht einen Moment, bis es sich wieder zusammensetzt.
»Aber hier gibt es kein Meer, und kein Lüftchen regt sich. Es ist, als säße man in einem Schmortopf.« Clare betrachtet sich in dem kleinen Kästchen, vergleicht ihr Gesicht mit dem ihrer Schwester. Abgesehen von den unterschiedlichen Proportionen und den verschiedenen Haarfarben besteht eine unbestreitbare Ähnlichkeit. Auf dem Foto an der Wand links von ihr sind sie, Paula, Anne, Julia und Skippy alle zusammen vor einem Wald in New England: jede Schwester eine feine Variation der Stirnlinie, des Augenschnitts, der Wangenknochen, der Lippenform, des Lächelns der Molettos. Dennoch gibt es riesige Unterschiede zwischen ihnen, im Charakter, was die Arbeit betrifft, die Männer, mit denen sie zusammen sind, die Orte, an denen sie leben. Von seiner Warte des Einzelkindes aus hat Stefano sie immer für ein faszinierendes Phänomen der Vervielfältigung gehalten. Einmal hat er auch gestanden, dass er geträumt habe, er sei mit allen fünf Schwestern im Bett, doch irgendwann hätten alle fünf angefangen, ihm aus unbegreiflichen Gründen Vorwürfe zu machen und ihn auszulachen.
»Stefano geht es gut?«, erkundigt sich Paula.
»Ja.« Clare fragt sich, ob es stimmt, dass sie eine Art telepathische Verbindung haben, wie ihr Vater immer behauptete.
»Wie läuft’s in seiner Kanzlei?« Paula hat noch immer dieses Kleinmädchengesicht, keine Spur Make-up, die langen Haare zum Zopf geflochten.
»Gut, gut«, sagt Clare. »Er will jetzt eine größere Wohnung kaufen, weil er will, dass wir zusammenziehen.«
»Wow!«, sagt Paula. »Und das sagst du mir so nebenbei?«
»Hm«, macht Clare.
»Freust du dich?«, fragt Paula.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Clare.
»Was soll das heißen?«, fragt Paula. »War es nicht das, was du wolltest? Mit ihm zusammenleben?«
»Ich weiß nicht.« Clare hat das Gefühl, allmählich sämtliche an sie gestellten Erwartungen zu enttäuschen.
»Aber deswegen hast du doch in Ligurien alles aufgegeben, oder?«, sagt Paula. »Das Haus, die Arbeit, alles.«
»Das war vor über zwei Jahren«, erwidert Clare. »Zweieinhalb.«
»Was hat sich denn in der Zwischenzeit geändert?« Paula trinkt einen Schluck aus der Kaffeetasse, die auf dem Tisch steht. Schon seit sie sechzehn und Clare vierzehn war, versuchen sie, einander ihr Liebesleben zu erklären und zu verstehen.
»Er hat sich geändert, ich habe mich geändert.« Clare würde gern offener reden, aber sie ist gar nicht sicher, wie die Dinge wirklich liegen: Sie weiß es nicht.
»Hast du einen anderen getroffen?«, fragt Paula zielsicher.
Clare sucht eine Ausflucht, doch mit ihrer Schwester gibt es die nicht: »Ja.«
»Wer ist es, Clarie?« Plötzlich ist Paula besorgt; man sieht es trotz der schlechten Videoqualität. »Einer, den du schon kanntest?«
»Nein«, sagt Clare. »Ich kannte ihn überhaupt nicht.«
»Was für
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