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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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machen, abschütteln.
    Er geht ins Wohnzimmer zurück, beginnt den Boxsack mit Fäusten zu bearbeiten, hämmert mit aller Kraft darauf ein, bis ihn die Fingerknöchel schmerzen und er fast außer Atem ist und die Wände zittern vom Widerhall; zuletzt verteilt er noch ein paar Fußtritte und Kniestöße, um noch eins draufzusetzen. Dann schaltet er den großen Flachbildschirm ein, der an der Wand hängt, zappt sich durch die Satellitenkanäle, ohne einen einzigen zu finden, der ihn fesselt. Er wühlt in den auf dem Regal aufgereihten cds, schiebt ein Live-Konzert von Freddie King in den Player, stellt es nach der Hälfte des ersten Stückes wieder ab. Er legt eine cd mit Meeresrauschen auf, das macht ihn noch nervöser, er schaltet es ab. Dann probiert er es mit einem Konzert für Oboe und Orchester von Mozart, mit einer alten Aufnahme von Django Reinhardt, einer Single-Sammlung von Bo Diddley. Nichts passt ihm: Er legt auf, stellt ab, wirft die kleinen silbernen Plastikscheiben aufeinander, ohne sie wieder in ihre Hüllen zu stecken.
    Auf einem neben der Ladestation des schnurlosen Telefons mit Tesafilm an die Wand geklebten Zettel liest er die Nummer seiner Kinder in Kingston Near Lewes und wählt sie. Auf und ab gehend lauscht er dem Doppeltriller des englischen Freizeichens, antizipiert schon den Klang der Stimme von Will oder Jenny oder seiner Exfrau. Aber niemand hebt ab, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet und ausdruckslos die Nummer wiederholt. Er wartet auf den Pieps, schwankt bis zur letzten Sekunde, ob er etwas hinterlassen soll oder nicht. Schließlich sagt er: »Ich bin’s, ich wollte euch nur kurz hallo sagen«, und legt auf. Danach fühlt er sich noch schlechter als vorher: in seinem Kopf nur gähnende Leere, Zimmer leer, Gänge leer, Sofas und Tische leer, Türen geschlossen, Auto und Fahrräder aus der Garage verschwunden.
    Er geht ins Bad und duscht sich in der gläsernen Duschkabine mit den Seitendüsen, die ihn noch am selben Tag enttäuscht hat, an dem sie eingebaut wurde; er wäscht sich die Haare mit einem Shampoo, dessen Packung unzählige Wohltaten für den Kopf verspricht, und trocknet sie mit einem schwarzen Handtuch mit grauen Fransen ab, dem Geschenk eines Mädchens aus Bergamo, das aus unerfindlichen Gründen behauptete, eine gemeinsame Zukunft warte auf sie. Nach wenigen Minuten ist er so verschwitzt wie zuvor, mit glühenden Fußsohlen, gebeutelt von ziellosen Gedanken und Empfindungen. Er geht in die Küche, gießt sich aus Gewohnheit noch einmal drei Finger hoch Wodka ein, lässt das Glas dann aber unberührt auf dem Tisch stehen.
     
    Am Telefon spricht ein Versicherter, der in der Nähe von Bern mit seinem Porsche im Graben gelandet ist
     
    Am Telefon spricht ein Versicherter, der in der Nähe von Bern mit seinem Porsche im Graben gelandet ist und fordert, dass sofort jemand kommt, um ihn herauszuziehen, weil er in einer knappen halben Stunde einen ungeheuer wichtigen beruflichen Termin hat. Clare macht anhand der Daten des Navigators im Auto auf der Satellitenkarte die genaue Stelle ausfindig, sucht die nächste Vertragswerkstatt heraus, ruft an, damit eiligst ein Abschleppwagen geschickt wird, dann informiert sie den Kunden, der eine Premiumpolice bezahlt und daher Anspruch auf eine Extradosis Aufmerksamkeit hat.
    Während sie auf die Bestätigung wartet, dass der Abschleppwagen aus der Werkstatt losgefahren ist, gibt sie, ohne zu überlegen, im Fensterchen der Suchmaschine Daniel Deserti ein: Sie folgt einfach einem Impuls, der schneller ist als jeder Gedanke. Es kommen Hunderte von Seiten als Ergebnis, sie klickt auf die erste.
    Im Zentrum der Seite ist ein Foto von Daniel Deserti in dunklem Jackett, Ellbogen auf die Armlehne eines Sessels gestützt, Hand an der Schläfe, Blick zum Objektiv gewandt. Ihn zu sehen, versetzt sie unverzüglich wieder in Aufregung, ihr ist, als fixierte er sie: bereit, sich auf seine intensiv körperliche Art vorzubeugen, sie an der Schläfe oder Schulter zu berühren, ihr etwas zu sagen in dem rauhen, warmen Tonfall, den sie nur zu genau noch im Ohr hat.
    Sie ruft erneut die Werkstatt an, um sicherzugehen, dass der Abschleppwagen unterwegs ist, unterrichtet den Kunden über den neuesten Stand. Dann schaut sie sich um, ob die Supervisorin nicht gerade in ihre Richtung kommt, und kehrt zur Homepage von Daniel Deserti zurück. Es ist nichts Besonderes, einfach ein Ableger der Seite des Zattola Verlags, mit der gleichen blassen Graphik, weiße,

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