Sie und Er
Empfindungen der Nacht, die er mit Clare Moletto verbracht hat, durch seine Gedanken, wie eine Unterseeströmung in einem veraigten Gewässer.
»Die Veränderung im Erzählduktus?«, wiederholt die Interviewerin verunsichert.
»Finden Sie, dass eine Veränderung im Erzählduktus stattgefunden hat?« Es ist, als wären die Wörter nur Töne, denen er keine genaue Bedeutung zuordnen kann.
»Ja, wie sagt man auf Italienisch?« Die Interviewerin ist leicht verwirrt.
»Ihr Italienisch ist ziemlich gut«, sagt er. »Ich wollte nur verstehen.« In Wirklichkeit denkt er daran, wie Clare Moletto manche Wörter ausspricht: ihr amerikanisches R, ihr T, bei dem überraschend ihre rosa Zungenspitze flüchtig zwischen den Vorderzähnen auftaucht.
Die Interviewerin strengt sich an, den Kurs zu halten, kann aber ihren fragenden Tonfall nicht abschütteln: »Die Entwicklung der Sprache in den beiden Werken? Der Übergang von einer vorwiegend parataktischen Struktur im ersten zu einer vorwiegend hypotaktischen Struktur im zweiten?«
»Ja?« Ihm kommen einige Dinge in den Sinn, die er auf der Zugfahrt nach Mailand zu Clare Moletto hätte sagen können: Dutzende von möglichen Bewegungen und Wörtern, um die Nicht-Kommunikation zu durchbrechen, die Distanz zu verringern, sie zum Sprechen, zum Lachen zu bringen.
»Können Sie mir sagen, wie Sie dieses Werk heute einordnen würden?« Die türkische Interviewerin versucht das Hindernis zu umgehen. »Im Vergleich zu Ihren vorherigen Romanen?«
Er denkt an zwei oder drei Antworten, die er zur Verfügung hätte, doch er fühlt sich wie einer, der die Trauerrede auf einen verhassten Menschen halten soll: »Ich würde es unter die Tausenden von leblosen Sachen einordnen, die die Regale der Buchhandlungen in aller Welt füllen.«
»Leblos?«, fragt die Interviewerin unsicher.
»Unnötig, lustlos.« Durch die dunklen Brillengläser betrachtet er das staubige Licht, das ins Zimmer strömt.
»Ohne Licht.« Er hat ein Bild von Clare Moletto im Kopf, wie sie sich auf der obersten Stufe der Treppe, die in den kleinen verwilderten Garten führt, umdreht und ihn anschaut: ihre innere Schwingung sichtbar, transparent, warm, intensiv.
»Entschuldigen Sie, Signor Deserti, wie meinen Sie das?«, fragt die Interviewerin, immer verunsicherter.
»Ich meine, dass ich das Buch rein mechanisch geschrieben habe«, erwidert er. »Bloß um woanders zu sein als in meinem miesen realen Leben.« Die Hitze wird immer unerträglicher; er ist schweißgebadet.
»Woanders?«, sagt die Interviewerin, erneut so, als wäre das Problem linguistischer Natur.
»Ja«, bestätigt er. »Natürlich gehört das mit zu den Gründen, aus denen alle zu schreiben anfangen. Das Dumme ist, dass meine Logik stur und kalt war, so als müsste ich eine Leiterplatte zusammenbauen.«
»Aber das Resultat ist ein bedeutendes Werk.« Verzweifelt versucht die Interviewerin, wieder zu den Eckpunkten zurückzukehren, von denen sie ausgegangen war.
»Es wirkt so, ist aber keins«, sagt er.
»Es ist kein bedeutendes Werk?«, sagt die Interviewerin.
»Es sind nur mit professionellem Sachverstand zusammengestellte Wörter.« Er knöpft sein Hemd auf, schüttelt es, damit sich der Stoff von der Haut löst und Luft dazwischen kommt.
»Zusammengestellt?«, sagt die Interviewerin.
»Ja«, sagt er. »Wenn ich wirklich ehrlich wäre, müsste ich die Leser, die das Buch gekauft haben, irgendwie dafür entschädigen. Auch die türkischen Leser, jetzt.« Er reißt sich das Hemd herunter, wirft es aufs Sofa.
Die Interviewerin schweigt mehrere Sekunden, in der Leitung knackt und rauscht es. Zuletzt ist wieder ihre Stimme zu hören, aber noch befangener als vorher: »Und woran arbeiten Sie jetzt, Signor Deserti, wenn ich fragen darf?«
»Ach, ich bin noch in der Anfangsphase«, antwortet er. »Ja?« Ein Hoffnungsschimmer klingt in ihrer Stimme an. »Eine Anfangsphase, die jetzt schon gut drei Jahre dauert«, sagt er.
»Können Sie mir wenigstens eine Andeutung geben, Signor Deserti?« An dieser Stelle sucht die Interviewerin nur noch nach einem Ausweg.
»Da gibt es nichts anzudeuten.« Er weiß ja nicht einmal mehr, wie die ursprüngliche Idee aussah: Wenn er versucht, sie zu visualisieren, sieht er nur einen Raum voller nutzloser Gegenstände, so wie der Fußboden seines Wohnzimmers voller Pappkartons.
»Und welches Verhältnis besteht zwischen dem neuen Werk und Notizen aus dem Nichts?«, fragt die Interviewerin. Sie scheint jedes Vertrauen
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