Sie und Er
in ihre Ausdrucksfähigkeit verloren zu haben, ihr Akzent schwankt viel mehr als zu Beginn.
»Alle beide sind aus reiner Frustration entstanden«, sagt er mit einem Blick auf die Stöße von gebundenen Heften auf der rechten Seite seines Schreibtischs. »Aus Unfähigkeit, einen Schlussstrich zu ziehen, den Laden dichtzumachen.«
»Den Laden dichtzumachen?«, wiederholt die Interviewerin.
»Aufzuhören und etwas anderes zu tun.« Er gibt einigen von Lesern gesandten Texten, dem letzten Roman mit Widmung eines französischen Kollegen und einer von der Gemeindeverwaltung zum Geschenk erhaltenen Gedichtsammlung einen Schubs: Die Sachen flattern zu Boden, samt ihrer gutgemeinten Absichten.
»Wie meinen Sie das, Signor Deserti?« Die Interviewerin klingt verstört.
»Sehen Sie, es gibt viele Klischees über Schriftsteller«, sagt er. »Und natürlich tragen die Schriftsteller selbst kräftig dazu bei, denn sie wollen ja zusammen mit dem, was sie machen, auch sich selbst verkaufen. Das allerschlimmste ist das Klischee von der Angst vor der weißen Seite.«
»Ja?«, sagt die Interviewerin.
»Ja!«, bestätigt er. »Schließlich sitzt der Schriftsteller nicht in einer hehren Mission gegenüber der Menschheit da vor der weißen Seite, der Halunke! Er sitzt da und ringt sich irgendwas ab, weil er kreditwürdig bleiben will, obwohl er zahlungsunfähig ist. Weil er nicht auf seine Rolle verzichten kann!«
»Was meinen Sie genau, Signor Deserti?« Die Interviewerin wirkt verzweifelt.
»Ich meine genau das, was ich gesagt habe!«, sagt er. »Und das Gleiche gilt für jeden, der sich als gequälter Künstler aufführt! Für jeden, der mit einem Tellerchen rumgeht und um Bewunderung bettelt! Soll er doch Kohlköpfe oder Kartoffeln anbauen, anstatt zu jammern!«
Auf der anderen Seite der rauschenden Leitung herrscht erneut Stille; zuletzt sagt die Interviewerin: »Gut, dann danke ich Ihnen, Signor Deserti!«
»Ich danke Ihnen!«, sagt er und legt auf. Danach fühlt er sich keineswegs erleichtert, dass das Interview vorbei ist, und auch nicht froh über das, was er gesagt hat. Solche Fragen betreffen ihn nicht und interessieren ihn nicht, denkt er, es sind genau die Sümpfe, in denen er nicht mehr waten möchte. Er wandert im Wohnzimmer hin und her, ohne die Sonnenbrille abzulegen, setzt sich aufs Sofa und springt wieder auf. In diesem Augenblick interessiert ihn nur eines: ob es die Clare Moletto, an die er ständig denkt, tatsächlich gibt oder ob sie nur wieder so ein Hirngespinst ist. Denn sie geht ihm einfach nicht aus dem Kopf.
Das Telefon klingelt erneut; er lässt es läuten, bis der Anrufbeantworter anspringt. Eine weibliche Stimme sagt: »Hallo-ho? Hier ist Giovanna. Daniel? Bist du zufällig zu Hause?«
Er betrachtet den kleinen schwarzen Kasten, atmet flach in der Gluthitze, rührt sich nicht. Giovanna? Erst nach einigen Sekunden dämmert ihm, wer das ist: Giovanna Bernstein, die Vibraphonistin aus Lugano, mit der er seit drei, vier oder sogar fünf Jahren eine lockere Beziehung hat und mit der er hauptsächlich über sms und E-Mails korrespondiert.
»Nichts, ich wollte nur wissen, wie es dir so geht«, sagt Giovanna Bernstein, auch ihre Stimme klingt, als käme sie vom Band, obwohl sie jetzt spricht, mit ihren ungeäußerten Zweifeln, ihrer Scheu, direkt zu fragen, warum er nicht mehr auf ihre Nachrichten geantwortet hat.
Er schwankt kurz, ob er vielleicht doch mit ihr sprechen soll, in dem halb liebevollen, halb verführerischen Ton, den er ihr und den anderen Frauen gegenüber anschlägt, deren wackeliges emotionales und sexuelles Gleichgewicht er stützt; dann lässt er es.
»Na gut«, sagt Giovanna Bernsteins Stimme enttäuscht. »Melde du dich, wenn du magst.« Dann klickt es, die Verbindung ist unterbrochen, es folgt der Pieps, und das rote Lämpchen des Anrufbeantworters, das neue Nachrichten anzeigt, blinkt.
Er versetzt dem Boxsack ein paar Fußtritte und Faustschläge, aber das reicht ihm nicht. Er braucht Bewegung, muss hier raus. Er zieht das Hemd wieder an, schlüpft in die Schuhe, öffnet die Tür.
Draußen geht er an den Fassaden der Häuser entlang, die die unnatürliche Hitze dieses Stadtsommers aufgesogen haben und sie unermüdlich wieder abgeben.
Von ihren vier Schwestern ist Paula die, mit der sie am besten über Herzensfragen reden kann
Von ihren vier Schwestern ist Paula die, mit der sie am besten über Herzensfragen reden kann, wahrscheinlich, weil Paula drei Jahre in
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