Sie und Er
schwer zu lesende Texte auf hellgrauem Grund. Auf der Biographie-Seite gibt es allerdings zwei recht schöne Fotos, auf dem einen sitzt er vor einer steinigen Landschaft auf einem alten Motorrad, auf dem anderen lehnt er in einer Großstadtperipherie am Geländer einer Eisenbrücke. Das zweite ist ziemlich neu, aus seinem Gesichtsausdruck spricht die Mischung von Schwermut und Ironie, die sie inzwischen zu kennen meint. Aber mehr beeindruckt sie das erste, weil sein Blick so abenteuerlich und leidenschaftlich wirkt, so romantisch. Das Bild verwirrt sie und beschleunigt ihren Herzschlag noch mehr.
Die Biographie als solche ist sehr dürftig, gerade mal die Angabe des Geburtsorts (Nizza) und einiger Städte, in denen Daniel Deserti gelebt hat (Marseille, Rom, Montevideo, New York, London, Brighton, Lorgues, Mailand). Auf der Seite mit den Werken schwimmen die Titel seiner Romane im grauen Feld, mit jeweiligem Erscheinungsjahr, kurzer Inhaltsangabe und einer Liste der Sprachen, in die sie übersetzt wurden. Auf der FAQ-Seite sind einige Fragen an den Autor nachzulesen; die Antworten sind so unpersönlich und distanziert, bestimmt hat sie ein Verlagslektor verfasst. Sie kann dem Ganzen nichts weiter entnehmen als die Bestätigung, dass es Daniel Deserti tatsächlich gibt, wenn auch in einer Dimension, die völlig getrennt ist von der, in der sie ihm begegnet ist.
Sie fragt sich, was ihn bewogen hat, nach San Minimo zu kommen: ein vages Interesse, die Suche nach Anregungen für einen Roman, die Gewohnheit, jede Frau, die er trifft, zu verführen, Ermangelung von etwas Besserem. Sie fragt sich, warum er am nächsten Tag auf der Zugfahrt nach Mailand nicht einmal das Wort an sie gerichtet hat. Warum er ihr Tage später diese bedrängenden Nachrichten geschickt hat. Ob er sie womöglich so sieht, wie sie wirklich ist, oder ob er sich mit dem äußeren Schein zufriedengibt. Ob es zur Klärung der Situation beitragen könnte, ihn wieder zu treffen, oder ob das alles eher noch verworrener machen würde. Ob sie ihm, wie gestern versprochen, eine Nachricht schicken oder sich lieber so weit wie möglich von ihm fernhalten und nicht zu erreichen sein sollte, falls er sich wieder meldet. Sie fragt sich, was in ihr vorgeht, in dem Aufruhr zwischen Gehirn, Herz und Bauch: Was sie denn sucht, wovor sie davonläuft, welche Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie endlich kapiert, was sie von sich selbst und vom Leben möchte.
Der Versicherte mit dem Porsche ruft wieder an, empört: »Signorina, seit meinem ersten Anruf sind fünfundzwanzig Minuten vergangen, und hier ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen!«
»Der Abschleppwagen ist unterwegs«, sagt sie. »Es kann sich nur noch um Minuten handeln.«
»Signorina, ich habe in einer halben Stunde einen sehr wichtigen Termin!«, schreit der Versicherte in seinem herben, näselnden Ton. »Mir scheint, ich habe Ihnen die Dringlichkeit der Sache erklärt, aber offenbar haben wir uns nicht verstanden!«
Sie widersteht der Versuchung, ihm zu sagen, er sei ein arroganter Schnösel und bestimmt nur im Graben gelandet, weil er mit seinem Angeberauto zu schnell fuhr oder am Handy quatschte oder beides zusammen; sie flötet: »Ich rufe Sie gleich wieder an.« Sie ruft erneut bei der Werkstatt in Bern an, wo man ihr bestätigt, dass der Abschleppwagen inzwischen an Ort und Stelle eingetroffen sein müsste, dann wieder bei dem Versicherten. »Ich sehe ihn, er kommt«, antwortet er trocken und legt grußlos auf.
Sie fügt am Computer Uhrzeit und Ort der Leistung auf der Karte des Versicherten hinzu und speichert sie in dem entsprechenden Ordner. Dann tippt sie rasch Daniel Deserti bei Facebook ein: Es gibt eine Fanpage mit dem Foto von ihm auf dem Motorrad, das von der Homepage stammt: der Blick, die Augen, die Augen. 3223 Freunde, überwiegend Frauen, und Kommentare á la: Der Blick des Hasen ist einfach grandios!, und: Du hast buchstäblich mein Leben verändert, smack!, und: Ich weiß nicht, was ihr meint, aber für mich ist der Blick die schönste Liebesgeschichte, die ein italienischer Autor je geschrieben hat, einfach unvergleichlich, und: Danke Daniel Deserti, durch dich habe ich verstanden, dass es die wahre Liebe nicht gibt. Sie schließt die Seite bald wieder, blickt sich mit unregelmäßig klopfendem Herzen um.
Besser, sie schickt ihm keine Nachricht, denkt sie, und geht auf keine weitere Bitte um ein Treffen ein, falls er sich überhaupt noch an sie erinnert. Sie denkt an alle
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