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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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hin?«
    Der Pfleger von vorher fängt wieder an, ihm Zeichen zu geben, dass er mit dem Auto nicht da stehen bleiben kann.
    Sie ist schon jenseits der Tür zur Notaufnahme, vom Fußboden steigt ihr der Geruch des Desinfektionsmittels in die Nase, und ihre Füße in den durchnässten, glitschigen Schuhen laufen rasch über die schwarzweißen Fliesen.
     
    Nur einen Augenblick zuvor war er noch mitten in einem gar nicht üblen Traum
     
    Nur einen Augenblick zuvor war er noch mitten in einem gar nicht üblen Traum; darin lief er mit überraschend großen Sätzen durch eine Landschaft von Olivenbäumen, Steineichen und Weinreben einen Weg bergab und begegnete einer eleganten älteren englischen Reisenden, die zu ihm sagte: »Wenn Sie noch mal mit mir auf den Hügel steigen, erkläre ich Ihnen, wie man echte Sprünge macht.«
    »Was meinen Sie mit echt?«, fragte er. »Dutzende von Metern weit«, antwortete die elegante Dame. Dann begann der Klingelton des Handys ihn aus dem Traum herauszuholen, zog ihn an die Oberfläche wie eine Angelschnur einen Fisch, dem sich der Haken in die Backe gebohrt hat, der unerwartete Übergang schmerzt und verstört ihn. Er strampelt wütend, fuchtelt mit den Armen, schüttelt das Laken ab; schließlich findet er auf dem Nachttisch das klingelnde, vibrierende Handy, fegt es mit einer Handbewegung auf den Boden und lässt sich zurückfallen.
    Doch jetzt ist er wach, jede Faser noch durchdrungen von der nun unerfüllbaren Vorfreude auf die meterweiten Sprünge. Sein Kopf schmerzt, und wenn er ihn berührt, fühlt er das große Pflaster auf den Stichen, mit denen sie ihm vor fünf Tagen die Kopfhaut wieder zusammengeflickt haben. Gedanken tauchen auf wie Geröll, zusammen mit dem Bewusstsein: unaufgefordert, ungewollt. Das Handy beginnt schon wieder zu klingeln, mit unerträglicher Beharrlichkeit. Er wälzt sich noch wütender als zuvor über das Bett, fährt mit der Hand über den Fußboden, bis er an das kleine vibrierende Plastikgehäuse stößt. Er drückt eine Taste, schreit ungehalten: »Wer ist da?«
    »Dottor Zattola für Sie«, sagt eine weibliche Stimme, ganz kühle Dringlichkeit.
    »Daniel?«, sagt gleich darauf eine männliche Stimme, weich und schwer wie nasser Stoff.
    »Hallo«, sagt er.
    »Ar-man-do«, sagt die Männerstimme. »Zat-to-la.«
    »Aha«, sagt er, während das Bild seines Gesprächspartners allmählich an Schärfe gewinnt: das breite Gesicht, die rötlichen Haare, die kleinen blauen Augen, gereizt von wahrscheinlich schlechtsitzenden Kontaktlinsen, das von einem kurzen Bart bedeckte Doppelkinn, der immer in irgendwelche Hintergedanken versunkene Ausdruck.
    »Waren wir nicht um elf  verabredet, wir zwei?«, sagt Armando Zattola.
    Er streckt eine Hand nach der Uhr auf dem Nachttisch aus: Die Zeiger stehen anklagend auf elf Uhr dreißig. »Ja?«, sagt er.
    »Ja«, sagt Zattola. »Ich habe es hier im Kalender stehen, und es wurde mir von mehreren Seiten bestätigt.«
    »Tut mir leid«, sagt er.
    »Mir auch, sehr«, sagt Zattola. »Vor allem, weil ich zwei andere wichtige Termine extra verschoben habe.«
    »O je!«, stöhnt er. »Ich war bis fünf Uhr auf, deshalb.«
    »Das ausschweifende Leben des Schriftstellers«, sagt Zattola in dem vergeblichen Versuch, den Sarkasmus nachzuahmen, den schon sein Vater eher schlecht als recht dem Naturtalent seines Großvaters abgeschaut hatte.
    »Ich bin bei einer Sendung für Teleshopping von Kunst hängengeblieben«, sagt er. »Was für ein schauderhaftes Land. Hoffnungslos.«
    »Alles Stoff für deine Bücher«, sagt Zattola. »Na gut, mir reicht es zu wissen, dass du noch lebst, wir sehen uns ein andermal.«
    »Ich gehe in fünf Minuten los«, sagt er. »In einer halben Stunde bin ich da.«
    »Nein, jetzt ist es zu spät«, sagt Zattola. »Ich habe den ganzen Tag einen Termin nach dem anderen.«
    »Ich komme«, sagt er.
    »Nächste Woche geht es wieder«, sagt Zattola. »Montag oder Dienstag. Sprich mit Caterina, macht einen Termin aus.«
    Er setzt sich auf den Bettrand; Übelkeit dringt durch seine Kopfschmerzen, vergeht, kommt zurück. Selbst wenn er seinen Traum hätte weiterträumen können, denkt er, hätte die alte englische Lady ihm wahrscheinlich doch nicht wirklich beigebracht, wie man Dutzende von Metern weite Sprünge den Hügel hinunter macht, sondern wäre auf einmal nicht mehr da gewesen, wie es gewöhnlich in Träumen geschieht. Dennoch gelingt es ihm nicht, das Gefühl freudiger, dann aber unerfüllter Erwartung

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