Sie und Er
doch mehr Zeit und Gelegenheit hätte, um ein Gespräch anzuknüpfen und sich entwickeln zu lassen, ist schwer nachvollziehbar. Egal, unter welcher Stadt er gerade unterwegs ist, fast unweigerlich befindet sich in seinem Waggon eine Frau, der er, so scheint ihm, monate- oder sogar jahrelang seine besten Eigenschaften und Fähigkeiten widmen könnte. Er hat schon mehrere Hypothesen zur Erklärung dieses Phänomens aufgestellt, ist aber bisher zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Vielleicht hängt es von der unberechenbaren Dauer der Anwesenheit der Personen ab, vom ständigen Ein- und Aussteigen, von der extremen Überlagerung, die seine Aufmerksamkeit noch zuspitzt. Wenn er daran denkt, wie viele Waggons zu einem einzigen Zug gehören, jeder mit einer Frau, die den Lauf seiner Existenz verändern könnte, und dann an die Anzahl von Zügen, multipliziert mit allen Linien einer Stadt und mit allen Städten der Welt, die eine U-Bahn haben, wird ihm ganz schwindlig bei der Vorstellung.
Eine andere Überlegung, die ihn beschäftigt, ist die, wie unterschiedlich die Frauen sind, die ihn faszinieren, was Aussehen, Alter und möglichen Charakter angeht, und wie sie ebenso vielen unterschiedlichen Seiten seines Wesens entsprechen. Natürlich fühlt er sich nicht wahllos angezogen; was ihn interessiert, ist die Authentizität, unabhängig vom Stil, und er weiß genau, wie selten sie ist und wie man sich täuschen kann. Dennoch passiert es, dass er eine Frau beobachtet, die ein paar Meter von ihm entfernt sitzt oder steht, dass er ihren Blick und ihre Proportionen und die Farbe, die Beschaffenheit und den Schnitt ihrer Haare registriert, ihre Art, dazusitzen und vor sich hin zu starren oder ein Buch zu lesen oder über Kopfhörer Musik zu hören, und anhand dieser Elemente ist er nahezu sicher, dass sie eine überraschende Wendung in seinem Leben herbeiführen könnte. Dann steht sie rasch auf und steigt aus; noch bevor es ihm gelungen ist, sich eine Reihe von Gesten und Wörtern auszudenken, verschwindet sie in der Menge und hinterlässt das schmerzliche Gefühl verpasster Gelegenheiten. Und noch an derselben Haltestelle oder gleich an der nächsten steigt schon wieder eine Frau mit ganz anderen Merkmalen ein, die aber ebenso seine Phantasie beflügelt. Immer wieder passiert ihm das, unabhängig von der Anzahl Frauen, mit denen er im Lauf der Jahre tatsächlich Beziehungen eingegangen ist und die er weit über ihre anfängliche Erscheinung hinaus kennengelernt hat, bis zur völligen Auflösung aller Gründe für Anziehung oder Interesse. Mag sein, dass der spannendste Aspekt einer Begegnung in deren hypothetischer Dimension liegt: in den nicht ausgeloteten Möglichkeiten.
Die Türen des Waggons öffnen sich an seiner Haltestelle; mit Zombieblicken stürzen die draußen wartenden Menschen herein, es fällt ihnen nicht im Traum ein, denen, die aussteigen müssen, den Vortritt zu lassen, als gäbe es keine Regeln oder als gälten sie hier nicht, da niemand anders sie beachtet. Nicht dass ihm dies besonders missfiele: Er gebraucht beim Aussteigen Schultern und Ellbogen und genießt es sogar, sich auf dem Bahnsteig seinen Weg durch die Menge zu bahnen. Für den Überlebenskampf im Dschungel der Stadt ist er bestens gerüstet. Er eilt die Treppe hinauf, rempelt rechts und links die Leute an, bis er endlich ins vom Smog gedämpfte, dunstige Tageslicht tritt.
Er überquert den lauten, von Bankgebäuden gesäumten Platz, geht ein Stück die Prachtstraße entlang, betritt drei oder vier Blocks vor dem Verlagshaus eine Bar. An der Theke trinkt er eine Bloody Mary, süßlicher Tomatensaft, gemischt mit schlechtem Wodka und einem Hauch fadem Pfeffer; es hilft ihm kaum, das Gefühl von Sinnlosigkeit abzuschütteln, das ihn bis ins Mark durchdringt. Mit raschen Schritten verlässt er die Bar, betrachtet im Gehen die Leute auf dem Bürgersteig, die Schaufenster der Geschäfte, die Büros. Nach dem Regen der letzten Wochen nimmt die Hitze täglich zu, die Bewegungen beginnen langsamer zu werden. Jede menschliche Tätigkeit, die er unterwegs sieht, kommt ihm lächerlich oder aufgesetzt vor: die Verhaltensweisen, die Gesten, die Kleider, die Accessoires, die Satzfetzen. Er versucht sich vorzustellen, wie diese Menschen reagieren, wenn sie von einem Ereignis überrascht werden, das vollkommen außerhalb ihrer Kontrolle liegt, wie ein heftiger Temperaturanstieg oder ein allgemeiner Stromausfall.
Als er die Eingangshalle des Verlagshauses
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