Sie und Er
loszuwerden. Er gibt sich einen Ruck, geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, trinkt einen großen Schluck Weißwein direkt aus der Flasche. Es ist ein bitterer Chablis ohne jede freundliche Nuance. Andererseits war sein Verhältnis zum Alkohol seit je rein funktionell: Er trinkt nur in gewissen Phasen, maßlos und ohne Begeisterung, um Spannungen zu lösen oder Inspirationen zu beflügeln oder Gefühle zu betäuben. Bisher, scheint ihm, hat er an keiner dieser Fronten größere Erfolge erzielt. Er macht sich einen löslichen Kaffee und kippt ihn viel zu heiß hinunter.
Dann geht er ins Bad, dreht den Hahn auf, schüttet sich Hände voll kaltes Wasser ins Gesicht. Als er sich im Spiegel ansieht, hat er den Ausdruck eines von Autoscheinwerfern geblendeten Tieres.
Auf der Fahrt mit der U-Bahn betrachtet er durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille die stehenden und sitzenden Leute rundherum. Er fährt nicht häufig U-Bahn, denn er hasst die Vorstellung, Dutzende von Metern unter der Erde zu sein, ebenso wie das Gedränge, das kalte Licht, die verbrauchte Luft. Dennoch muss er zugeben, dass sie ein phantastischer Beobachtungsposten ist: Er hatte immer schon vorgehabt, einmal einen ganzen Tag darin zu verbringen, von einer Endhaltestelle zur anderen und wieder zurück zu fahren, um die Leute zu studieren und sich im Kopf Notizen zu machen.
Die anderen beobachten, darin ist er ein Meister: die Einzelheiten erkennen, auf die es ankommt, sie aus dem Fluss des Allgemeinen und Unbedeutenden herausfischen. Er hat nie wirklich versucht, diese Fähigkeit in ihre Bestandteile zu zerlegen, doch wenn er es müsste, würde er sagen, sie besteht aus einer Mischung von Neugier, Ärger, Anteilnahme, Abstand, Verständnis, Unduldsamkeit, Sympathie, Abneigung, alles gebündelt in einem Blick. Das ist es, was ihn blitzschnell unter die Oberfläche eines Ausdrucks oder einer Bewegung vordringen lässt, direkt hinein zu den inneren Beweggründen. Von hier aus ist er zum Schreiben gekommen und nicht umgekehrt: Was er im Lauf der Jahre lernen musste, war, seine Beobachtungen und Intuitionen in Wörter zu übersetzen, sie neu zusammenzufügen und in Form von Figuren und Geschichten darzustellen. Gleichwohl ist ihm jedes Mal, wenn er schreibt, deutlich bewusst, dass er eine Übersetzung vornimmt, mit einer entsprechenden unvermeidlichen Einbuße an Komplexität. Immer hat er den Eindruck, als bliebe der interessanteste, subtilste, widersprüchlichste Teil bei seinen Beschreibungen und Dialogen auf der Strecke, ginge verloren wie jetzt die Gedanken der Passagiere, die an jeder Haltestelle aus dem Waggon aussteigen und davoneilen. Er weiß genau, dass er, um diese Aspekte zu erhalten, beschließen müsste, seine Lebensenergie radikal umzuverteilen, sie viel mehr in seine Arbeit als in seine physische Existenz zu stecken, anstatt zu versuchen, sie halb und halb zu nutzen. Er weiß nicht mehr, wer als Erster den Spruch geprägt hat: »Entweder du lebst, oder du schreibst«, aber vor dieser Vorstellung hat ihm immer gegraut, sie kommt ihm vor wie der gemeinste, unannehmbarste Tauschhandel.
Zudem speist sich seine Beobachtungsgabe aus einem angeborenen Talent, das in Wirklichkeit ein eher besorgniserregender Makel ist: sich mit jedem zu identifizieren, der lange genug in sein Blickfeld tritt. Ihm genügt eine Geste, ein Wort, ein unbedeutendes Detail, und schon versetzt sich sein gesamtes Wahrnehmungssystem in die andere Person. Diese Haltung ist weder moralisch noch sozial und noch viel weniger politisch motiviert; es ist ein Mechanismus, der sich von allein in Bewegung setzt, er kann nichts dagegen tun. Es ist ihm schon immer so gegangen, von klein auf, bei allen Berufen, die er ausgeübt hat, bevor er zu schreiben anfing, auf Reisen, bei Konflikten, in seinen Liebesbeziehungen. Im einen Moment ist er vollkommen bei sich, in direktem Kontakt mit seiner Wesensart, und im nächsten wird er von der Wesensart des oder der anderen überrannt. Deshalb muss er immer auf der Hut sein, sich abschirmen, sich fernhalten, darf sich nicht einfangen lassen. Schon lange hat er entdeckt, dass Grobheit eine äußerst wirksame Verteidigung darstellt und außerdem viel weniger Energie kostet als Freundlichkeit.
Dann gibt es noch das Phänomen der möglichen Leben, die sich ihm in fast jedem U-Bahn-Waggon anbieten, in Form von jeweils sehr unterschiedlichen Frauen. Warum es viel häufiger in der U-Bahn als in Zügen oder Flugzeugen auftritt, wo man
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