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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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hervorbringt, ohne dass es gewöhnlich jemand bemerkt.
    »Hier bin ich.« Er steht in der Tür zum letzten Zimmer.
    Sie blickt ihn an, von ein paar Metern weiter unten: Sie hätte einige Fragen, findet aber nicht die Worte, und außerdem scheint ihr, dass zwischen ihnen nicht die nötige Vertrautheit da ist. Die Hitze lähmt ihre Bewegungen, das Licht löscht ihre Gedanken aus; sie bleibt stehen, wo sie ist, schließt halb die Augen.
    »Hey, alles in Ordnung?«, fragt er, an den Türrahmen gelehnt.
    »Ja, ja«, antwortet sie, dabei ist gar nichts in Ordnung: Sie wird von einer Traurigkeit überwältigt, die genauso riecht wie das Parfüm seiner zweiten Exfrau in ihrem früheren Schlafzimmer. Eine zum Verkauf angebotene Wohnung zu besichtigen ist nichts im Vergleich zu dem hier: Hier hat sie den unerträglichen Eindruck von auseinandergerissenen Existenzen.
    Er ist erneut verschwunden, taucht aber bald mit einem Karton voller Bücher wieder auf, stellt ihn ab, geht zurück.
    Sie steigt die Steinstufen hinauf, erreicht die Tür, als er gerade einen zweiten Karton herausträgt, der nicht nur Bücher enthält, sondern auch farbige Mappen, lose Blätter, Zeichnungen und verschiedene Gegenstände. Weitere stehen auf dem Boden an der Wand. Der übrige Raum ist voll mit Leinwänden, die teils unbearbeitet, teils mit den gleichen großen runden Köpfen auf dünnen Körpern in leeren Räumen bemalt sind; daneben Staffeleien, Tuben und Dosen mit Farben, Pinsel. An der Tür steht noch ein altes Spinnrad mit einem Zettel, auf dem in rotem Filzstift geschrieben steht: Autrement je le jette!
    Er deutet darauf: »Interessiert dich das?«
    »Nein, danke«, sagt sie.
    »Ich muss es hier wegräumen«, sagt er. »Es ist einer dieser Gegenstände, die die Verantwortung für einen gewissen Augenblick tragen.«
    Sie nickt, hat aber keine Lust, sich vorzustellen, wofür das Spinnrad wohl verantwortlich ist, für welchen Augenblick. Es ist ja nicht ihr Leben.
    »Unglaublich, wie sich das Leben mit Schlacken füllt«, sagt er. »So völlig unkontrollierbar. Du bist überzeugt, nichts anzuhäufen, und dann das.«
    »Es wäre auch traurig, wenn es vollkommen leer bliebe«, sagt sie. »Findest du nicht?«
    Er schüttelt den Kopf: »Die sperrigen Überbleibsel sind noch trauriger. Die Idee, dass die Gegenstände bleiben, als stummer Vorwurf.«
    Sie lächelt: »Die Gegenstände können nichts dafür, die Ärmsten.«
    »Aber die, die all die Gegenstände wollen, die schon«, sagt er. »Die sie benutzen, um ihr leeres Leben zu füllen.«
    »Soll ich dir helfen?« Sie deutet auf die Kartons, denn sie will sich nicht weiter in diese Geistesverfassung hineinziehen lassen.
    »Wenn du willst«, sagt er.
    Sie tragen die schweren Kartons einen nach dem anderen zum Auto und hieven sie auf den Rücksitz. Auch das Spinnrad tragen sie zu zweit und verstauen es, so gut es geht, zwischen den Kartons und den Lehnen der Vordersitze. Dann sehen sie sich wortlos um, im Gestrüpp der Lichtung, wo kleine weiße Schneckenhäuser vertrockneter Schnecken blinken, unter der sengenden Sonne, die den Boden zum Glühen bringt, im monotonen Lärm der Zikaden.
    Mit gesenktem Blick geht er an dem kleinen Fluss entlang. Wieder zögert sie, dann folgt sie ihm in ein paar Meter Abstand. Sie kommen unter einer großen Eiche vorbei, an einem Bambuswäldchen; weiter drüben stehen einige baufällige Holzboxen. »Hattest du Pferde?«
    Er nickt, schaut in die erste Box: das durchhängende Dach ist mit rostigen Metallstreben gestützt, damit es nicht einstürzt. Die anderen beiden sind im gleichen Zustand, die Holzlatten abgeblättert und spröd von der Sonne, mit breiten Ritzen dazwischen; innen sind alte Bretter und Schaufein, zerfranste Seilrollen, in einer Ecke ein verstaubter, abgenutzter Sattel.
    »Wie viele Pferde hattest du?« Sie möchte den Bildern, die ihr gegen ihren Willen ununterbrochen durch den Kopf gehen, etwas mehr Schärfe verleihen.
    »Drei«, sagt er. »Wenn meine Kinder kamen, veranstalteten wir irre Rennen.« Mit ausladender Bewegung weist er auf die Lichtung, als folgte er einem zügellosen Galopp.
    »Jenny und Will?«, sagt sie.
    Er wirkt erstaunt: »Erinnerst du dich an ihre Namen?«
    »Ja, selbstverständlich.« Sie denkt an die Blicke seiner Kinder im Kaufhaus, halb neugierig, halb besorgt.
    »Es gibt immer zu viel Blutvergießen, am Ende jeder Geschichte«, sagt er. »Zu viele Tote und Verletzte.« Er rüttelt an der Tür einer Box: Die alte Holzhütte

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