Sie und Er
sie hier, warum?
»Komm nur.« Er öffnet schon die Fensterläden: Das Licht flutet bis in die Ecken eines kleinen Wohnzimmers, einer Einbauküche, einer Treppe.
Die Einrichtung ist einfach, wenige zusammengewürfelte Möbel, harmonisch, leicht. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Schimmel liegt in der Luft, von Kernseife, Lavendelblüten, Zwiebeln, gemahlenem Kaffee, ein klassisches weibliches Parfüm. An den Wänden hängen einige recht hässliche Bilder: große runde Köpfe auf dünnen Körpern in leeren Räumen.
Er fängt ihren Blick auf: »Die sind von Lisettes Freund, er ist Maler.«
Sie betrachtet ein gerahmtes Foto auf einem Sims: Eine blonde Frau mit kurzen Haaren balanciert auf einem Felsen mitten im Meer. »Ist sie das?«
»Ja«, antwortet er, ohne hinzuschauen, schon auf der Treppe.
Sie folgt ihm, weiß nicht recht, welche Grenzen der Aufmerksamkeit und Diskretion sie bei diesem Besuch einhalten muss. Im oberen Stockwerk stehen ein Tisch und ein Stuhl vor einem waagrechten, schmalen, langen Fenster, durch das man die sonnengelbe Lichtung sieht, den kleinen Fluss, der rundherum fließt, die großen Eichen am Ufer.
»Hier habe ich zwei Bücher geschrieben«, sagt er, »oder vielmehr eineinhalb.«
Das anschließende kleine Zimmer ist fast ganz von einem breiten Bett mit orangefarbener Tagesdecke ausgefüllt. Links an der Wand hängt ein weiteres hässliches Bild, in der Ecke steht eine Stereoanlage, CDs liegen auf einem Tischchen und auf dem Fußboden verstreut. Unwillkürlich registriert sie weitere Einzelheiten, und jede gibt ihr einen schmerzlichen Stich. Der Hauch von weiblichem Parfüm ist hier deutlicher als im Untergeschoss, steckt wahrscheinlich in den Laken und den Kleidern in dem alten, mattblau gestrichenen Schrank. Sie mag nicht daran denken, was hier in diesem Bett für wer weiß wie viele Nächte und Morgen zwischen ihm und seiner zweiten Exfrau gewesen ist, und auch nicht, was in den anderen Räumen alles war. Was sie gern wüsste, ist, welche seiner Bücher er hier geschrieben hat, aber sie kann die Reihenfolge der Titel, die sie im Internet gelesen hat, im Kopf nicht abrufen, sie ist verwirrt von zu vielen Eindrücken, die gleichzeitig auf sie einstürmen. »Welche Bücher hast du denn hier geschrieben?«
Er ist schon aus dem Zimmer gegangen, schließt schon die Läden des schmalen, langen Fensters vor seinem ehemaligen Schreibtisch. »Was?«, fragt er, schon auf dem Weg nach unten.
»Welche Bücher?«, wiederholt sie oben an der Treppe; aber im Grund ist es völlig unwichtig, denkt sie, es ändert nichts.
»Das weiß ich nicht mehr.« Es ist klar, dass er nur so tut, er hat einfach keine Lust, darüber zu reden.
Sie folgt ihm und denkt, sie hätte gar nicht mit hereinkommen dürfen, es wäre viel besser gewesen, draußen an dem kleinen Fluss irgendwo im Schatten auf ihn zu warten. Oder noch besser, abzureisen, nach Mailand zurückzufahren.
Er schaut in die Küchenschränke, in die Regale, in den Kühlschrank. Er liest einige an ein kleines Korkbrett gepinnte Zettel, betrachtet ein paar Fotos, streicht mit den Fingern über mehrere Schlüssel in einem Körbchen. Mit der Hand fährt er über die Hocker, die Stühle, die Holzbretter, als wollte er mit diesen Tastempfindungen seine Erinnerung an den Ort festigen.
»Wo sind die Bücher, die du mitnehmen sollst?«, fragt sie, um ihn an den Grund des Besuchs zu erinnern, falls es denn wirklich darum ging. Eigentlich ist das nicht ihre Sache, denkt sie, es geht sie nichts an.
»Keine Ahnung«, sagt er.
Sie laufen weiter durchs Haus, zwischen dem blendenden Licht, das von draußen kommt, und der Dunkelheit hinten in den Räumen, schauen in einer Abstellkammer nach, in zwei kleinen Bädern. Sie fühlt sich immer unwohler, wie ein Eindringling in einem fremden Leben, und weiß nicht, wo sie hinschauen soll. Zuletzt geht sie zur Tür: »Ich warte draußen.«
»Ich komme mit«, sagt er, als hätte er keine Lust, allein gelassen zu werden. Er geht vor ihr her, steigt einige Steinstufen hinauf, die der Neigung des Hügels folgen, betritt das letzte Zimmer.
Sie bleibt auf der kleinen Terrasse vor dem Wohnzimmer im kümmerlichen Schatten der Pergola mit den weißen Trauben stehen und betrachtet ein rundes Tischchen mit zwei Eisenstühlen: Es gleicht fast aufs Haar dem, das sie in ihrem Garten hat. Ob das auch Zeichen sind, fragt sie sich, oder ist es einfach der Zufall, der im Leben verschiedener Menschen off ähnliche Ereignisse und Formen
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