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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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mehr unterscheiden zu können zwischen seinem Begehren und ihrem, zwischen Erwartung und Suche, zwischen Druck und Nachgeben, zwischen Denken und Tun. Es ist die erstaunlichste Übereinstimmung, Gegensätze, die sich anziehen und beinahe verschmelzen und doch wie durch ein Wunder ihre Natur als Gegensätze bewahren. Positivnegativ, männlich-weiblich; die winzigste Bewegung erhöht die Spannung und gibt sie weiter, als forschten sie nach den fernsten Ursprüngen ihres Hierseins, ihres Seins. Sie könnten stundenlang so weitermachen, ohne die Lust zu verlieren, unermüdlich. Doch sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände, zieht ihn an den Haaren an sich, immer fester, sie bäumt sich rückwärts auf, atmet so tief, dass sie seinen Atem mit einsaugt. Er macht weiter und hält inne und schaut zu ihr auf und ist total hingerissen von ihrem Ausdruck und von der Farbe, die ihr in die Wangen steigt, von ihren geweiteten Pupillen, die mit ihren vielfachen Signalen den unsichtbaren, unbeständigen Kern seiner Empfindungen und seines Wesens überfluten. »Heeey!« Sie keucht, zittert.
    »Heeey!« Er verliert das Gleichgewicht, rutscht fast den schrägen Stein hinunter, findet im letzten Moment am Felsen einen Halt.
    Beide lachen; sie umarmen und küssen sich erneut, aneinandergepresst, in der sengenden Sonne, die schon länger wieder ihre Haut und ihre Köpfe zum Glühen bringt.
     
    Am Abend essen sie in einem kleinen Restaurant an der Hauptstraße des Ortes
     
    Am Abend essen sie in einem kleinen Restaurant an der Hauptstraße des Ortes, an einem leicht schiefen Tisch auf dem Trottoir. An Schnüren hängen Öllampen, auf den Tischen stehen Kerzen, die alles in ein ständig flackerndes, warmes Licht tauchen. Die Kellnerin scheint Daniel Deserti gut zu kennen, denn als sie kommt, um ihre zwei Kerzen anzuzünden, begrüßt sie ihn herzlich und blickt dann Clare an, als erwarte sie eine Erklärung.
    Er weist mit offener Hand auf sie und lächelt.
    Die Kellnerin nickt: »Interessant.«
    Clare fühlt, dass ihr die Röte in die Wangen steigt, lacht verlegen; an den anderen Tischen drehen sich einige Gäste nach ihnen um.
    Er bestellt eine Flasche lokalen Weißwein; die Kellnerin bringt ihn sofort, in einem eisgefüllten Kübel. Er schenkt ein, sie stoßen an, trinken gleichzeitig einen Schluck: mit glänzenden Augen im Lichtschimmer, die Empfindungen des Tages unter und auf der Haut. Auf einmal besteht diese unglaublich neue Vertrautheit zwischen ihnen: diese erregte, zarte Schwingung, die Gesichtszüge, Formen und Verhalten prägt, Informationen sammelt, sie in einem ununterbrochenen Hin und Her auswertet und immer neue Schauder auslöst.
    Sie liest die Speisekarte, ist aber zu abgelenkt, um sich auf die Beschreibung der Gerichte zu konzentrieren; sie fängt immer wieder von vorne an, ihre Augen überfliegen die Wörter, ohne etwas aufzunehmen, die Gedanken schweifen zurück, voraus.
    Nach einer Weile nimmt er ihr die Karte aus der Hand: »Soll ich bestellen?«
    Sie lächelt, nickt. Hätte Stefano ihr den gleichen Vorschlag gemacht, denkt sie, hätte sie es als Versuch gedeutet, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Doch hier ist die Atmosphäre zu romantisch für derartige Deutungen; und weiter vorn in der Straße hört man Gitarrenklänge und einen Elektrobass. Von den anderen Tischen kommen Stimmen, Gelächter, Blicke, mischen sich im Hintergrund. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, gleitet leise davon, wie durch ein Bühnenbild, das extra für diesen Abend Ende Juli gebaut wurde.
    Er steht auf, hält die Kellnerin an, die gerade mit einem leeren Tablett in der Hand wieder ins Lokal geht; sie reden und lachen.
    Als sie ihn so aus einigen Metern Abstand im Licht der Ollampen sieht, kommt es ihr noch seltsamer vor, dass er ihr so nah gewesen ist. Sie fragt sich, ob ihre unglaubliche neue Vertrautheit ein Dauerzustand ist oder sich bei der nächsten Stimmungsschwankung auflöst und sie dann noch entfernter und orientierungsloser sind als zuvor. Eine Sekunde lang erfüllt diese Vorstellung sie mit Schrecken; gleich darauf befindet sie, dass es keinen Sinn hat, an die Zukunft zu denken, wenn sie sowieso morgen nach Mailand und in ihre jeweiligen Leben zurückkehren müssen.
    Ebenso gut kann sie so lange wie möglich im Augenblick verweilen, der so zauberhaft und umfassend ist; sich widerstandslos und ohne Projektionen darin verlieren, alles Übrige seinlassen.
    Irgendwie gelangt der Ton für »eingegangene Nachricht« ihres Handys durch

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