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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Ausdruck, an deinen Bewegungen, an deiner Stimme, an allem.«
    Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, fährt sich mit der Hand durch die Haare; es kommt ihr vor, als sei sie noch nie von einem Mann mit so viel Aufmerksamkeit und Sachverstand betrachtet worden. Natürlich hat sie sich gelegentlich irgendwie für etwas Besonderes gehalten, aber viel häufiger hat sie sich durch das, was er jetzt als ihr Exotischsein bezeichnet, fehl am Platz gefühlt und nicht begehrt und bewundert. Seit je passt sie in keine der vorhandenen Hauptkategorien, sie musste sich ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu denken und mit anderen umzugehen selbst erfinden, ohne Hilfe von außen und ohne des Ergebnisses je ganz sicher zu sein. Bei ihren Schwestern war es genauso: Jede ist durch eine Reihe von Versuchen und manchmal katastrophalen Fehlern zu der geworden, die sie heute ist, da ihre Eltern keine brauchbaren Vorbilder waren. Als Kind beneidete sie ihre Schulkameradinnen manchmal um die sorglose Leichtigkeit, mit der diese von ihren Müttern ein ganzes Bezugs- und Verhaltenssystem übernahmen, Kleider, Frisuren, nützliche Wörter, Tischmanieren, Formen des Umgangs mit anderen Kindern, ohne dass sie mühsam herausfinden mussten, wie man bei jeder einzelnen Gelegenheit zu sein und was man zu tun hatte. Mit der Zeit entdeckte sie dann, dass Selbststudium und Unangepasstheit auch Vorteile bringen, allerdings überwiegen sie die Nachteile wohl kaum. Und doch gefällt sie sich jetzt, ja wirklich.
    Er streckt die Hand über den Tisch, ergreift die ihre, streichelt ihr Handgelenk. Die Geste ist fast die gleiche wie in Sori, in dem Restaurant am Meer - wie lange das her ist! -, doch hat sie nun eine ganz andere Bedeutung. Sie soll nicht die Distanz messen: Es ist eine Bestätigung der Nähe. Ein Schauer überläuft ihren Arm, bis zum Herzen.
    Da kommt ein vibrierendes Geräusch aus ihrer Handtasche; sie beugt sich zur Seite, öffnet sie halb und sieht das Display leuchten: »eingegangene Nachricht«. Sie zögert, ob sie sie hier lesen soll, oder vielleicht gar nicht. »Entschuldige mich einen Moment.« Sie will die Hand zurückziehen und aufstehen, ist aber noch nicht ganz sicher, ob sie es wirklich will und kann. Sie hat Angst, den Augenblick zu verderben, ihn zu verlieren.
    »Selbstverständlich.« Er lässt ihre Hand los, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, ohne den Blick von ihr zu wenden.
    Sie nimmt ihre Tasche und steht auf, betritt mit schwankenden Schritten das Restaurant, bleibt stehen, sobald sie außer Sichtweite ist. Wieder eine sms von Stefano: Du weißt nicht, was du verpasst: schlage Cumiani vernichtend beim Tennis auf der WII 1. Satz, 6 -0, sensationell!
    Sie hat keine Ahnung, was sie antworten soll, also schreibt sie: Bravo, drückt auf »Absenden«, steckt das Handy wieder ein, holt tief Luft. Ihr ist, als könnte sie nicht eine Sekunde mehr verlieren, daher geht sie sofort wieder hinaus, ohne die Toilette aufzusuchen. Sie sieht ihn im Dreiviertelprofil, das Glas in der Hand, dunkel, anziehend; noch nie, scheint ihr, hat sie einen Mann so attraktiv gefunden. Mit einer Dringlichkeit, die bei jedem Schritt wächst, geht sie zu ihm und setzt sich an den kleinen Tisch: absolut besessen von dem Bedürfnis, den Kontakt wieder herzustellen, sich wieder dem Feuer seines Blicks und seiner Aufmerksamkeit auszusetzen, wieder den Klang seiner Stimme im Ohr zu haben.
    »Wir waren dabei, von dir zu sprechen«, sagt er.
    »Warum sprechen wir nicht mal von dir?« Ihr Herz klopft noch schneller als zuvor, ihr Kopf ist voller unkontrollierbarer Gedanken, die nicht wissen, wo sie anhalten sollen.
    »Ach, ich bin überhaupt nicht interessant.« Obwohl klar ist, dass er das nicht ernst meinen kann, wirkt es in diesem Moment nicht wie eine Attitüde, sondern wie die Bestätigung, dass er ganz auf sie eingestellt ist.
    »Ich auch nicht.« Sie schließt halb die Augen, versucht die Empfindungen zu sortieren, die auf sie einstürmen, aber es gelingt ihr nicht. Das Interesse richtet sich ganz auf das, was zwischen ihnen ist, scheint ihr; und es ist grenzenlos.
    »Wenn du nicht interessant bist, wer dann?« Sein Blick erfasst sie wie eine Welle, die sichtbaren Seiten und auch die verborgenen, erreicht ihr Inneres.
    »Ach, tu nicht so«, sagt sie, aber in Wirklichkeit möchte sie, dass er weitermacht, dass er alles entdeckt, was es zu entdecken gibt.
    »Du lässt dich keinem Typ zuordnen«, sagt er. »Du wechselst von einer Seinsweise zur anderen,

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