Sie und Er
ohne in ein bestimmtes Muster zu verfallen.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« Sie lacht. »Bin ich ein Fall von multipler Persönlichkeit?«
Auch er lacht: »Ich glaube nicht.«
»Also was dann?«, sagt sie. »In großen Zügen?«, sagt er.
»Hm.« Sie ist keineswegs sicher, ob sie es hören will; sie kann es kaum erwarten.
»Du bist einfach und kompliziert«, sagt er. »Du kennst die Welt, kannst aber noch über Dinge staunen, dein Wesen ist wild, aber du hast eine romantische Seele, obwohl du einen mutigen Geist hast, bist du schreckhaft, bist fröhlich, neugierig, manchmal überdrüssig, suchst Aufmerksamkeit und Fürsorge, brauchst niemanden.«
»Na ja.« Sie ist es nicht gewohnt, dass jemand so lange über sie spricht. Die Männer in ihrem Leben neigten alle dazu, hauptsächlich über sich selbst zu sprechen: offenbar das einzige Thema, das tiefes, dauerhaftes Interesse in ihnen wecken konnte. Nur ihr unterlegene Männer waren bereit, sich ihr ohne Einschränkung zu widmen, doch die zogen sie nicht an, so viel Zärtlichkeit oder Sympathie sie ihr auch einflößen mochten. Sie hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, es sei unmöglich, einen attraktiven, nicht völlig egozentrischen Mann zu finden - was ihr immer äußerst ungerecht vorkam.
»Es ist hinreißend, deine verschiedenen Eigenschaften im Zusammenspiel zu sehen«, sagt er. »Die wunderbare, einfache Komplikation.«
Seine Worte berauschen sie. Ab und zu versucht eine Alarmglocke, das diffuse Wohlbefinden zu übertönen, kommt aber nur gedämpft an, wirkungslos. »Du bist ein Verführer«, sagt sie. »Du willst mir den Kopf verdrehen, wie schon wer weiß wie vielen Frauen vor mir.«
»Nein.« Sein Gesichtsausdruck ist so betrübt, dass er einen Moment lang geradezu verloren wirkt.
Sie lacht: »Natürlich, noch keiner hast du je solche Sachen gesagt.«
»Nein«, sagt er. »Ich habe noch nie eine getroffen, die mich dazu inspiriert hätte.«
Sie fixiert ihn: »Du bringst mein Innerstes zum Schmelzen, wenn du das sagst.« Das Gefühl hat sie wirklich.
»Oh, gern geschehen!« Er lacht. »Du klingst auch so unglaublich weich. Wie ein Violoncello von Stradivari.« Helle Freude leuchtet auf seinem Gesicht, die sie noch nie gekannt hat, scheint ihr, auch wenn sie sie zu kennen meint.
»Du auch.« Ihre Scheu vor Wörtern ist ungebrochen, trotz aller Emotionen, die ungehindert zwischen ihnen fließen.
»Wir sprechen aber von dir.« Er drückt ihre Hand fester. »Die Frau aus Upstate New York, halb Irländerin, halb Italienerin, natürlich und anspruchsvoll, lebhaft, aufmerksam, intelligent, geistreich, tiefgründig, leichtsinnig. Wenn ich in einem Roman dein Porträt zeichnen müsste, würde ich am Ende bestimmt zu viele Adjektive brauchen.«
Sie lacht, trinkt einen Schluck Wein. Sie fühlt eine warme, lichte Aura um sich herum, wie in einem Traum, der sie auf unbestimmte Zeit wer weiß wohin entführt.
Er sieht sie weiter an: »Wenn ich aber nur ein einziges Adjektiv benutzen dürfte, weißt du, welches ich dann wählen würde?«
»Welches?«, sagt sie.
»Strahlend«, sagt er. »Strahlend.«
Sie holt Luft; sie würde gern bei einer geistreichen Antwort Schutz suchen, doch ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Und dann ist da dieser leicht schmerzliche Ausdruck am Grund deiner Augen«, sagt er. Er lässt ihre Hand los, streicht mit ausgestreckten Fingern über ihre Schläfe, zart, vorsichtig.
»Wie kannst du das sehen?«, sagt sie mit angehaltenem Atem; ihr Herzschlag stockt.
»Es ist da.« Auch ihm stehen scheinbar plötzlich die Tränen in den Augen. »Ich sehe es.«
Sie beißt sich auf die Lippen, wendet den Blick ab.
Er beugt sich über den Tisch und küsst sie auf die Stirn; sein Glas fällt um. Er taucht zwei Finger in das verschüttete Nass, legt sie hinter ihr linkes Ohr, hinter sein linkes Ohr.
Sie fragt sich, was passiert: Ihr scheint, sie haben beide ein unkontrollierbares Terrain betreten, und die Vorstellung macht ihr Angst.
Die Kellnerin kommt und fragt, welches Dessert sie möchten, reicht ihnen eine kleinere Karte.
Ohne sich abzusprechen, wählen sie und er das Pistazieneis mit geraspelter Orangenschale; ihre Stimmen überlagern sich. Die Kellnerin lächelt, sie lächeln ebenfalls.
Eine Weile schweigen sie, nehmen die Geräusche von den anderen Tischen auf, die Musik, die vom Ende der Straße herüberweht. Die Kellnerin bringt zwei Tellerchen mit Eis: kleine pastellgrüne, stumpfe Kegel, bestreut mit orangefarbenen
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