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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Rhythmus wieder einsetzt. Sie tanzen voll Elan weiter, schöpfen aus einem Repertoire von Schritten und Bewegungen, die sie eben erst gesehen oder sich ausgedacht haben, mit einer Intensität, die wächst und wächst und immer wilder wird. Sie nähern sich und schieben sich weg, umrunden einander und fallen sich wieder in die Arme. Hemmungslos mixen sie die unterschiedlichsten Stile, tanzen langsam engumschlungen, gehen über zu Rock V roll, machen Flamencoschritte mit einer Hand auf der Hüfte, den duck walk á la Chuck Berry, bewegen die Finger wie eine Schere vor den Augen, lassen die Arme kreisen, kreuzen sie, heben die Knie, treten nach der Seite, nach vorn und nach hinten, laufen auf der Stelle, tun so, als tanzten sie klassisches Ballett, lassen sich fallen, halten sich im letzten Moment, wirbeln so schwindelerregend herum, das sie die Paare in ihrer Nähe fast umreißen. Die Leute, die unten sitzen oder an den Absperrgittern um das Podest stehen, schauen zu, lachen, zeigen auf sie. Sie und er machen weiter, bieten alle Energie auf, die sie haben, ohne Vorbehalte, maßlos, teils für sich selbst, teils aus Spaß an der Show, teils, um sich aus dem Strom von klebrigen Gefühlen und komplizierten Gedanken herauszureißen, teils, um am namenlosen Grund dessen anzukommen, was sie aneinander anzieht.
    Die Musiker werden auf sie aufmerksam, der Saxophonist deutet auf sie und ruft »Bravo!« ins Mikrophon; das Tempo nimmt zu, ihre Bewegungen werden schneller. Die Lampen rundherum erzeugen weiße, gelbe und rote Lichtspuren, die Luft leistet allen Bewegungen nachgiebigen Widerstand, streicht über ihre Haut, fährt in die Kleider. Sie tanzen und tanzen, angestachelt von der unerschöpflichen elektrisierenden Spannung der Berührung und der Improvisation, die Füße sausen über die Holzbretter, die Zentrifugalkraft, die sie selbst erzeugen, reißt sie mit, hemmungslos ergeben sie sich der urtümlichen Kraft, die der Musik und ihnen selbst innewohnt und die an die Oberfläche kommt, da die Zeit drängt, brennt, vergeht, Sekunde um Sekunde, Geste um Geste, Schwung um Schwung, Atemzug um Atemzug.
     
    Sie hören erst auf, als auch die letzte Zugabe verklungen ist
     
    Sie hören erst auf, als auch die letzte Zugabe verklungen ist, die Musiker die Verstärker abschalten und die Instrumente einpacken. Noch einmal durchqueren sie das Dorf auf der abschüssigen Hauptstraße, aufeinandergestützt, als rutschten sie; sie lachen, bleiben stehen, gehen weiter. Vom vielen Tanzen sind ihre Beine immer noch ungewöhnlich elastisch: Mit langen Schritten schieben sie sich vorwärts und berühren auf eine seltsame Art den Boden, als hätte sich etwas an der Schwerkraft geändert. Drei oder vier Leute sitzen rauchend an den Tischchen vor der Bar, drei oder vier unterhalten sich stehend auf dem Trottoir; aus einem offenen Fenster kommt der Klang einer Hammondorgel. Die leisen Stimmen verwehen in der warmen Luft.
    Vor der Tür des Hauses in der Seitengasse zieht er den Schlüssel aus der Tasche: Beide schauen ihn an, überrascht, dass sie ihn haben, ihn benutzen können, um aufzuschließen. Stolpernd steigen sie die hohen Stufen der Treppe hinauf, die unter ihren Füßen und vor ihren Blicken immer länger zu werden scheint. Er hält sich mit einer Hand am Geländer fest, mit der anderen drückt er sie an sich, umfasst ihre Taille, als sie auf ihrem Stockwerk ankommen. Sie umarmen sich an der dicken, bröseligen Mauer, küssen sich, an die alte Holztür gelehnt.
    Sie betreten das große weiße Zimmer, als stellten sie es sich nur vor: jede Bewegung leicht und erschöpft, erst im Nachhinein bedacht. Sie schütteln die Schuhe ab, stellen sich barfuß und verschwitzt auf die alten sechseckigen Kacheln, die sich im ersten Moment kühl anfühlen. Sie sehen sich an und sehen sich um wie Mondbewohner, die auf die Erde heruntergefallen sind, ohne die Gegenstände genau zu erkennen, die im Raum stehen.
    Er deutet auf das Sofa, das Bett, den Tisch: »Ist das nicht seltsam?«
    »Seltsam, ja«, sagt sie. »Sehr.« Sie nickt auch zur Bekräftigung, da sie gar nicht sicher ist, ob ihre Worte überhaupt zu hören sind.
    »Hier zu sein.« Er breitet die Arme aus, als wollte er das Volumen des Zimmers messen.
    »In genau diesem Augenblick?« Sie fühlt, dass ihre Beine nachgeben. Es kommt nicht vom Wein, den sie getrunken haben, es kommt nicht vom vielen Tanzen, es kommt nicht vom Schwitzen, es kommt nicht von der Erschöpfung.
    »Du und ich?« Er

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