Sie und Er
denkt er an all das, was er hätte sagen können und nicht gesagt hat, als sie noch in Frankreich waren, als sie noch auf der Autobahn waren, als sie noch auf den großen Straßen nach Mailand hineinfuhren und der Bahnhof noch weit weg war. Er schaut auf den Regalen und in den Schränken nach, aber er hat kein einziges alkoholisches Getränk mehr im Haus.
Wieder im Wohnzimmer, tritt er an das Fenster zur Straße. Die Gehsteige sind voller Leute: Männer und Frauen warten plaudernd und gestikulierend vor dem Eingang der Pizzeria neben seiner Haustür, Autos und Mopeds fahren vorbei, Gelächter und Gesprächsfetzen steigen herauf, zusammen mit dem gedämpften Summen einer Sommernacht in der Stadt. Bei jedem Signal, das aus der Außenwelt zu ihm dringt, fühlt er sich noch ausgeschlossener und verlassen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. In diesem Zustand, denkt er, könnte er ebenso gut über das Geländer klettern und sich hinunterstürzen, um zur Überraschung und zur Freude aller Klatschmäuler auf dem Asphalt zu zerschellen; doch wahrscheinlich wäre diese Geste gar nicht so spektakulär, verglichen mit der Verzweiflung, die ihn bei lebendigem Leib auffrisst.
Wann er sich zum letzten Mal so gefühlt hat, weiß er nicht mehr; vielleicht als kleiner Junge ohne jede Entscheidungsgewalt über sein Leben. Er versteht nicht, wie es so weit kommen konnte, nach allem, was er aus den zahllosen Fehlern hätte lernen müssen, die er im Lauf der Zeit gemacht hat, und aus den dauerhaften Spuren, die sie hinterlassen haben. Ihm ist, als sei er völlig unfähig, sich weiterzuentwickeln, und werde ständig zurückgeworfen von seinem Hang zur Selbstzerstörung und seinem Ergeiz, mit seiner Arbeit erfolgreich zu sein. Wut erfüllt ihn bei der Vorstellung, geglaubt zu haben, künstlich Ausschnitte des Lebens nachzubilden könne interessanter und bedeutsamer sein als das Leben selbst, ganze Jahrzehnte vergeudet zu haben mit Surrogaten und Annäherungen. Doch er schafft es nicht, lange darüber nachzudenken; er weiß nur, wie er bis vor einer Stunde unter Strom stand, solange er mit Clare Moletto zusammen war. Nichts sonst interessiert oder betrifft ihn wirklich, nichts.
Er tigert in seiner glühend heißen Wohnung hin und her, den Kopf voller sich überlagernder Bilder: sie im Profil im Auto, sie in dem großen weißen Zimmer stehend, sie im Wasser des kleinen Flusses, sie nackt an den Felsen gelehnt, während ihre Haare sich in kleinen Spiralen ringeln, sie, wie sie zur Seite schaut und ihr Blick dabei die Farbe wechselt. Wenn er sie durch die Lupe dieser sehr frischen Erinnerungen betrachtet, erscheint ihm ihre Natürlichkeit wie ein Wunder, nicht zu vergleichen mit der Art der anderen Frauen, die er gekannt hat. Je länger er daran denkt, umso mehr verblüfft es ihn, wie sehr sie ihm gleicht, eine weibliche Ausgabe seiner eigenen widersprüchlichen Mischung von Charaktereigenschaften ist. Unbegreiflich, dass er das nicht früher gemerkt hat, es ihr nicht zu verstehen geben, nicht sagen konnte. Mit welch dummer Ironie er mit ihr gesprochen hat, als sie im Weinberg standen, denkt er, ohne die Angst, sie verlieren zu können, da sie ja noch bei ihm war. Es kommt ihm außerordentlich gemein vor, dass er sie so allein gelassen hat mit der Entscheidung, anstatt ihr unmissverständlich zu erklären, er wolle sie unbedingt und sei bereit, alles zu tun, um sie zu bekommen. Wenn er nur kurz nachdenkt, kann er sich an Dutzende von Episoden erinnern, in denen er Frauen zurückwies, mit dem Vorwand, ein Künstler brauche seine Freiheit. Über die Jahre hat er eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, in fremde Leben hineinzuschauen, ohne die Absicht, sich lange darin aufzuhalten, und mit der Ausrede, er habe schon genug Schaden davongetragen und im Leben anderer angerichtet, wenn er geblieben sei. Zu lange hat er sich als Gefühlspirat und Beziehungsforscher betätigt, halb teilnehmender, halb distanzierter Beobachter, mehr auf die Fehler als auf die Qualitäten konzentriert, einen Fuß drinnen und einen draußen. Und jetzt, wo er eine wunderbar echte und offene Frau trifft, ist er nicht in der Lage, angemessen zu reagieren. Der Frust ist so groß, dass er mit dem Kopf gegen die Wand rennen könnte, die Einrichtung zertrümmern, alle Gegenstände um sich herum zertrampeln möchte. Mit Fäusten und Füßen geht er auf den Boxsack los, der an einem Deckenbalken hängt, dass die ganze Wohnung zittert, immer weiter, bis ihn die Knöchel
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