Sie und Er
gibt es nur die Nachricht, die sie in Marina Recardinos Wohnung erhalten hat. Als sie sie wiederliest, schlägt erneut eine heiße Welle über ihr zusammen, heftig, blendend. Noch einmal versucht sie, ihn anzurufen: Die automatische Piepsstimme wiederholt ihren ekelhaft unpersönlichen Satz etwa zum zehnten Mal. Sie schreibt ihm eine sms: Ich bin unten vor deiner Tür, meint aber jetzt schon zu wissen, dass er sie nicht lesen wird, zumindest nicht rechtzeitig. Verschwitzt und atemlos schaut sie sich um, weiß nicht mehr, was sie tun soll.
Eine Blondine mit einem türkisfarbenen kurzen Sommerkleid und glitzerndem Goldschmuck kommt zur Tür, einen Schlüsselbund in der Hand. Die Frau mustert sie flüchtig: »Müssen Sie rein?«
»Ja«, sagt Clare.
Die Frau kehrt ihr den Rücken zu, schiebt den Schlüssel ins Schloss, öffnet.
Sie folgt ihr in den Eingang. »Wissen Sie, in welchem Stock Daniel Deserti wohnt?«
Die Blondine dreht sich um, mustert sie von Kopf bis Fuß, verzieht die Lippen zu einem kleinen Lächeln: »So ein Zufall, ich gehe grade zu ihm rauf.«
Plötzlich verunsichert, schaut auch Clare genauer hin: der Haarschnitt, im Nacken kürzer, über der Stirn länger, die kurze, gerade Nase, die beinahe phosphoreszierenden Augen in dem braungebrannten Gesicht, die verkrampften Kiefermuskeln, das dreireihige Goldarmband am rechten Handgelenk.
»Komm ruhig mit.« Die Frau geht ihr voran, an der Loge des Portiers vorbei, an den sie sich letztes Mal gewandt hatte, um Daniel Deserti zu finden, das einzige Mal, vor einem Monat, einem Jahr oder einem Leben.
Gemeinsam nehmen sie den schmalen Aufzug aus bossiertem Aluminium, der eindeutig erst kürzlich im Zuge der Renovierung eingebaut wurde, mit der das alte Haus offenbar in eine begehrte Wohnanlage umgewandelt wurde. Die Blondine drückt auf den Knopf für den fünften Stock. Auf der Fahrt nach oben betrachten sie sich im Spiegel: unterschiedlich in den Proportionen, in den Farben, im Stil, aber doch beide nicht unansehnlich, in leichte Stoffe gekleidet, extrem angespannt, Seite an Seite auf engem Raum. Das Parfüm der Blondine verbreitet im Aufzug einen durch die Hitze noch aufdringlicheren Duft nach Sandelholz, Weihrauch und Vanille. Auf der Höhe des dritten Stocks streckt sie die Hand aus, ohne sich umzudrehen: »Ich bin jedenfalls Miriam.« Sie blickt weiter starr in den Spiegel, als wäre die Szene dafür bestimmt, auch von anderen beobachtet zu werden.
»Clare«, sagt sie. Ihre Gedanken werden schärfer und verlieren dann sofort die Konturen; das verzweifelte Bedürfnis, wieder mit Daniel zusammen zu sein, hat sich in ein namenloses Gemisch verwandelt, das ihr Blut stocken lässt. Sie kann gar nicht mehr verstehen, warum sie nicht gleich wieder gegangen ist: Ihr ist, als sei sie verzaubert, entscheidungsunfähig und willenlos, verhext von Gefühlen, die sich immer rascher in ihr Gegenteil verkehren.
Mit einem kleinen Ruck hält der Aufzug im fünften Stock. Die Blondine namens Miriam geht schnurstracks auf eine Tür zu, dreht den Schlüssel im Schloss. »Bitte sehr.« Sie macht eine einladende Geste.
Clare bleibt wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz stehen, als würde ein Gewicht sie zu Boden drücken. Das Handy in ihrer Tasche hat wieder angefangen zu klingeln und zu vibrieren; sie wirft gar keinen Blick darauf.
»Komm nur rein«, sagt Miriam. Ohne Zögern findet sie den Schalter, macht das Licht an, schließt die Tür.
Clare betritt mit vorsichtigen Schritten ein Wohnzimmer, das durch eine halbe Wand zweigeteilt ist. In der einen Hälfte steht ein Schreibtisch mit einem Laptop und Stößen von Papier vor einem großen offenen Fenster, in der anderen stehen ein paar Sofas und Sessel, die mit afrikanischen Stoffen bedeckt sind. Auf dem Boden mehrere Kartons und ein zertrümmertes Handy: Plastiksplitter, Glassplitter, heraushängende kleine Drähte. Miriam streift es mit der Fußspitze: Sie trägt Legionärssandalen, mit hellen Lederriemen, die sich an ihren gebräunten Waden hinaufwinden.
Auch Clare starrt es an: Wie unrealistisch ihre Erwartungen waren, einen Anruf zu bekommen, während sie durch die Stadt lief und es schien, als würde ihr ganzes Leben davon abhängen, den Klang seiner Stimme im Ohr zu haben.
»Clare, stimmt’s?«, sagt Miriam mit einer halben Pirouette, die einstudiert wirkt, wie alle ihre Bewegungen.
»Ja.« Bloß raus hier, denkt Clare, wegrennen, so weit sie nur kann. Aber etwas hält sie zurück, und es ist nicht
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