Sie und Er
»Es gibt überall Indizien, wo du auch hinschaust.« Sie nimmt ein kleines Bild von der Wand, ein Bleistiftakt einer sitzenden Frau auf einem Kissen, vielleicht ein Selbstporträt, und darunter steht: Für Daniel, für das, was ist, und das, was nie sein wird. S.
Unwillkürlich liest Clare die Worte, wie in einem Traum, in dem man nicht wählen kann, was man tut, und ist schmerzlich berührt von dem verzweifelten Distanzierungsversuch, den sie in dem Satz, in den schrägen Linien der Schrift zu erkennen meint.
»Wer ist S., zum Beispiel?«, sagt Miriam. »Weißt du es?«
Clare schüttelt den Kopf; sie will nicht weiter in dieses Spiel hineingezogen werden.
Miriam hängt das Bildchen wieder an seinen Platz und nimmt eine Haarspange aus falschem Schildpatt von einem Bord. »Und die?«, sagt sie. »Weißt du, wem die gehört? Mir bestimmt nicht.« In ihrer Stimme schwingt Schmerz mit, und sie muss blinzeln, als würde das Halogenlicht über dem Möbel sie blenden.
»Ich muss gehen«, sagt Clare.
»Komm wenigstens noch einen Augenblick mit rüber.« Miriam verlässt die Küche, öffnet die Tür zu einem Badezimmer gleich gegenüber auf dem Flur. Wieder findet sie sofort die Schalter, klick, klick, klick, jeder Schalter eine Bestätigung, dass sie sich gut auskennt, was ihr aber kein echtes Privileg garantiert.
Clare folgt ihr mechanisch, obwohl es gar nicht nötig wäre, sie weiß schon alles, was sie wissen muss.
Miriam öffnet ein Schränkchen, verschiebt die Gegenstände in den Fächern. »Sieh mal an. Tampax, Binden, zwei, nein, drei Gesichtscremes, Feuchtigkeitsmilch, Reiseschminkset, Wimperntusche, Rouge, Lidschatten, Lippenstifte, Augentropfen. Und wie viele Zahnbürsten gibt es?
Drei, nein, vier. Plus zwei neue, noch in der Packung, nicht schlecht. Falls er dich bittet, über Nacht zu bleiben, brauchst du dir wenigstens keine Sorgen zu machen, wie du dir die Zähne putzt.«
Clare ist schon halb wieder im Flur, der mit Kartons vollgestellt ist; sie möchte nur noch raus hier, abhauen, für niemanden mehr erreichbar sein. Als sie ins Wohnzimmer kommt, hört sie, dass jemand gewaltsam an die Eingangstüre hämmert. Daniel Desertis Stimme ruft: »Miriam?! Mach auf!«
Miriam läuft durch den Flur, aber Clare kommt ihr zuvor, öffnet die Tür.
Daniel Deserti sieht sie und erstarrt, vor Überraschung wie gelähmt.
Sie sieht ihn an: mit angehaltenem Atem, angehaltenem Herzschlag. Zwei oder drei Sekunden lang stehen sie reglos voreinander, Auge in Auge, ohne Worte.
»Wie kommst du denn hierher?«, sagt er zuletzt. »Wie kommst du denn hierher?« Er keucht, spricht langsam und gedehnt.
Mit gesenktem Kopf geht Clare an ihm vorbei auf die Treppe zu.
»Warte!« Doch als er versucht, sie am Arm festzuhalten, sind seine Bewegungen so unkoordiniert und plump, dass sie ihm entwischt.
Sie eilt hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, sie will nur noch davonlaufen, vor allem, was sie kennt und was sie nicht kennt. Sie erwartet, seine Schritte zu hören, die ihr folgen, aber nichts, auch als sie schon ein Stockwerk tiefer ist, nichts, als sie mit wachsender Geschwindigkeit zwei Stockwerke tiefer ankommt, nichts, auch nicht nach vier Stockwerken, auch als sie schon im Erdgeschoss angekommen ist, nichts.
Er tritt aus der Haustüre, und sie ist nicht mehr da
Er tritt aus der Haustüre, und sie ist nicht mehr da: weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Straße. Ein paar Sekunden schwankt er zwischen den zwei potentiell gleichwertigen Richtungen, dann läuft er nach rechts bis zur Straßenecke, rempelt Grüppchen und Paare an, die nachts um eins noch mit unzumutbarer Langsamkeit über die Gehsteige schlendern. Auch er selbst ist unzumutbar langsam im Vergleich zu dem, was er möchte, seine Reflexe hinken weit hinter seinen Gedanken her, seinem Blick geht die Fähigkeit ab, wesentliche Details scharf zu sehen. Forschend schaut er die Querstraße hinauf und hinunter, doch keine der Gestalten weit und breit hat Clare Molettos Gang oder ihre Proportionen. Schwerfällig rennt er zurück, prallt beinahe mit Miriam Lovati zusammen, die noch immer vor seiner Haustür steht, sich umdreht und ihm mit einem sonderbaren, verwunderten Ausdruck nachschaut. Er läuft weiter bis zum anderen Ende der Straße, mustert den Corso in beiden Richtungen, auch wenn er längst genau weiß, dass die Wege, die Clare Moletto eingeschlagen haben könnte, mit jeder Minute mehr werden und sie außer Reichweite bringen.
Er läuft
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