Sie und Er
zu der Straße, wo er sein Auto geparkt hat, meint ständig, sie zu sehen, wie sie umkehrt und ihm entgegenkommt, wie sie ihm von der anderen Straßenseite zuwinkt. Er begreift nicht, dass es ihm nicht gelungen ist, sie an der Wohnungstüre aufzuhalten, als sie blass und herzzerreißend schutzlos zur Treppe ging; er begreift nicht, dass er nicht sofort hinterhergerannt ist, ihr keine überzeugenden Erklärungen nachgerufen hat, warum eine andere Frau in seiner Wohnung war, warum er außer Haus war, warum er meint, dass er nicht mehr ohne sie leben kann. Ob ihn der Wodka gelähmt hat, den er getrunken hat, fragt er sich, oder sein Hang dazu, sich aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen, die Überraschung, weil sie plötzlich vor ihm stand, der neuerliche Verlust unentbehrlicher Fähigkeiten? Die vorher ausgebliebenen Reaktionen beeinträchtigen die jetzigen Bewegungen, schaffen einen dumpfen Widerstand, verkürzen seinen Atem, schwächen seine Beine.
Sobald er bei dem alten staubbedeckten Jaguar anlangt, springt er hinein, lässt den Motor an, fährt ruckartig durch die umliegenden Straßen, den Blick auf die Gehsteige gerichtet, so abgelenkt und durcheinander, dass er zwei- oder dreimal beinahe auf ein anderes Auto auffährt. Falls er einen Unfall bauen würde, würde er nicht warten, das ist sicher: Er würde aus dem Auto springen und jeden umrennen, der versuchte, ihn aufzuhalten, würde zu Fuß weitersuchen, getrieben von der Unrast seiner Gedanken.
Vergeblich kurvt er zwanzig, dreißig, vierzig Minuten lang herum, beschleunigt und bremst, fährt an den Rand und gleich wieder los. Zuletzt hält er an einer Ecke, wo Scheinwerfer ihn von hinten anblinken, weil er den Verkehr behindert; er beschließt, zu ihr nach Hause zu fahren. Natürlich glaubt er nicht, sie dort vorzufinden, aber ihm ist, als gebe es keine Alternative. Wahrscheinlich ist sie zu ihrem Rechtsanwalt zurückgekehrt, denkt er, die Brutalität der Tatsachen hat ihre Zweifel beseitigt, den Überschwang gedämpft, ihre unbotmäßigen Träume zerschlagen.
An den Straßennamen erinnert er sich nicht, aber an den Weg, auf dem er zu ihr gelangt ist, als er sie abgeholt hat, um mit ihr nach Frankreich zu fahren, vor nur drei Tagen. Er denkt an seine Stimmung an dem Abend: das aufgeregte Schwanken zwischen Beherrschung und Kontrollverlust, die Verlockungen des Unbekannten, die tausend Versprechungen der vor ihnen liegenden Reise, die unwiderstehliche Nähe. Jetzt fährt er denselben Weg mit wild klopfendem Herzen und zusammenhanglosen Gedanken, alles scheint ihm zu entgleiten in dieser klebrig-heißen Nacht.
Als er fast angekommen ist, bleibt er im Wirrwarr der Einbahnstraßen stecken; um endlich herauszufinden, durchquert er mit Vollgas eine davon verkehrt herum. Rücksichtslos biegt er nach den Schaufenstern eines Autosalons links ab und kommt in der Straße heraus, wo sie vor drei Tagen wunderbarerweise abends erschienen ist, um mit ihm wegzufahren. Er parkt das Auto in der ersten Lücke am Gehsteigrand und steigt aus. Zu beiden Seiten sieht er die trübseligen Gebäude aus den sechziger und siebziger Jahren mit ihren tristen graugrünen Fassaden, den scharfen Kanten, den kleinen jämmerlichen Balkonen, und er kann es nicht fassen, dass sie ihre leuchtende Energie so lange an einem Ort wie diesem verstecken konnte. Er denkt an die Leute, die in den Wohnungen schlafen oder zu schlafen versuchen, bei geöffneten Fenstern, um nicht zu ersticken, ahnungslos, dass sie nur wenige Dutzend Meter vom Ausgangspunkt aller Sorgen und Wünsche entfernt sind, die ihn im Augenblick quälen.
Er versucht sich klarzumachen, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie zurückgekehrt oder auf dem Weg hierher ist; dennoch geht er, so schnell er kann. Unweit der Haustür, vor der er an dem Abend vor drei Tagen gehalten hat, sieht er einen Mann und eine Frau, die reden und gestikulieren. Die Frau hat einen orangefarbenen Koffer dabei, aber sie ist es nicht, sie ist es nicht.
Als er bis auf wenige Schritte herangekommen ist, erkennt er Stefano, den Mailänder Anwalt, von damals bei dem Unfall im Regen. Einen Moment lang fühlt er sich erleichtert, dass der Typ hier ist und nicht mit ihr zusammen; aber wirklich beruhigend ist das nicht, also sucht er fieberhaft nach weiteren Hinweisen.
Stefano bemerkt ihn gar nicht: Mit jesuitischer Beharrlichkeit redet er unbeirrt auf die Frau mit dem Koffer ein, drückt halb vorgebeugt ihren Arm.
»Lass mich jetzt gehen!« Die Frau versucht,
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