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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Trägheit: Es ist eine Form von verzögerter, schmerzhafter Neugier, die jede Ecke auslotet, jeden Gegenstand umkreist, ihr schier das Herz abdrückt.
    Miriam geht voraus, drückt auf einen weiteren Schalter, ohne ihn suchen zu müssen, macht Licht in einer provenzalisch eingerichteten Küche: mattweiße Holzmöbel mit blauen Blümchen. Sie öffnet den zweitürigen Kühlschrank: Er ist leer bis auf eine halbe Zitrone, einen Rest Parmesan und eine Dose Tonic Water. Auf einem Bord steht eine leere Wodkaflasche, daneben ein Päckchen Mandeln. Sie nimmt eine und schiebt sie in den Mund, auch wenn diese Geste ganz offensichtlich einzig den Zweck hat, ihre Vertrautheit mit dem Ort zu beweisen. »Darf ich fragen, was du von Daniel wolltest?«
    »Nichts.« Clare ist wie hypnotisiert von ihrem angedeuteten Lächeln, davon, wie sie schnell noch eine zweite Mandel stibitzt und daran knabbert.
    »Ein Glück«, sagt Miriam. »Alles andere hat keinen Zweck, bei ihm.« Allmählich verbreitet sich ihr fruchtiges, aufdringliches Parfüm auch hier, hängt in der warmen, stagnierenden Luft.
    »Und was willst du von ihm?«, sagt Clare, gar nicht zufrieden mit dem Ton ihrer Stimme.
    »Nichts.« Miriam zuckt die Achseln. »Genau wie du.« Sie fährt mit der Hand über die Fläche neben dem Spülbecken, zwischen die leeren Fläschchen und Dosen, zieht eine Perlenkette hervor und hält sie ins Lampenlicht, als hätte sie sie soeben wunderbarerweise in einer Lotterie gewonnen. Sie legt sie um.
    Das Handy in Clares Handtasche läutet und vibriert unermüdlich; sie betrachtet noch einmal Stefanos Namen und schaltet es aus.
    »Tut mir leid«, sagt Miriam mit einem schrägen Blick.
    »Was?«, fragt Clare. Ihre konturlosen Gedanken hängen in der Luft wie Miriams Parfüm, sie führen nirgendwohin.
    »Der Andrang«, sagt Miriam. »Die Überschneidung.« Sie macht eine ausladende Handbewegung, das goldene Armband glitzert an ihrem schmalen Handgelenk. »Für mich war’s auch nicht so schön, als ich draufgekommen bin.«
    Clare beobachtet sie schweigend. Andere Gerüche liegen in der Luft: nach Holz, Zitrusfrüchten, Stadtstaub, Spuren von Tagen und Nächten, fremdem Atem, fremden Gedanken.
    »Nachdem er dir einige Tage oder Wochen das Gefühl gegeben hat, du seiest etwas ganz Besonderes, nicht wahr?«, sagt Miriam. »Unglaublich, außerordentlich, unvergleichlich, die einzige Frau auf der Welt.«
    Clare betrachtet eine Holzschale mit ein paar Reiswaffeln und Walnüssen auf dem Küchentisch. Daniel Desertis Verhalten auf dem provenzalischen kleinen Markt fällt ihr wieder ein: wie er mit der Neugier eines Wilden über alles staunt, was er sieht, wie sinnlich, ja gierig er alles aufnimmt und prüft und sie darauf aufmerksam macht.
    »Nachdem er so tief in dein Leben eingetaucht ist«, sagt Miriam, »selbst über deine Jugend, deine Kindheit Bescheid weiß. Nachdem er dir alle Gründe aufgezählt hat, warum du so bist, wie du bist. Namen für Namen, Ort für Ort, Augenblick für Augenblick, bis du ganz berauscht warst von seiner verblüffenden Aufmerksamkeit.«
    »Hör zu, das interessiert mich nicht.« Clares Knie geben nach, das Herz tut ihr weh in der unerträglichen Hitze dieser Küche, die ihr fremd ist.
    »Den anderen Männern ist es völlig egal, wie du bist oder warum«, sagt Miriam. »Wenn du ihnen von dir erzählst, schlafen sie ein oder wechseln das Thema. Er dagegen hat diese unbändige Neugier, das kommt dir vor wie ein Wunder, oder? Es ist wie eine Droge, nach ein paar Stunden wirst du abhängig.«
    »Ich habe gesagt, das interessiert mich nicht.« Clare hat das Gefühl, aus ihrem Leben herausgefallen zu sein, ohne Anweisung, wie sie wieder zurückfinden soll.
    »Möchtest du nicht wenigstens wissen, warum er das macht?« Erneut verzieht Miriam die Lippen zu diesem schrägen Lächeln. »Ich schon.«
    »Ich nicht.« Clare schüttelt den Kopf wie ein Kind.
    »Vielleicht weil seine Mutter ihn als Baby verlassen hat?«, sagt Miriam. »Und seitdem versucht er, darüber hinwegzukommen, indem er jede Frau erobert, die ihm über den Weg läuft, weil er die allererste nicht haben konnte. Oder weil er Stoff für seine Arbeit braucht? Oder weil er schnell überdrüssig wird und was Neues erfinden muss? Oder was?«
    Clare bemüht sich, nicht hinzuhören, aber die Wörter erreichen sie trotzdem, ziehen andere Bilder nach sich, die ihre Gedanken noch mehr verderben.
    »Möchtest du nicht eine kleine Führung durch die Wohnung haben?«, sagt Miriam.

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