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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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konnte er je Interesse für diese Frau aufbringen, fragt er sich, für ihre Augen, die nie lange genug irgendwo verweilen, für ihre bemühten Gesten, für ihren familiären Hintergrund, der ihn überhaupt nichts angeht.
    »Dann gib sie mir zurück«, sagt sie. »Wir gehen zu dir rauf und holen sie, jetzt gleich.« Sie zeigt auf die Straße, das dreireihige Goldarmband an ihrem Handgelenk glitzert im Licht der Straßenlampen.
    »Geh allein rauf.« Er zieht den Hausschlüssel aus der Tasche, hält ihn ihr schroff hin. »Sie liegt irgendwo in der Küche. Wenn du nicht in zehn Minuten zurück bist, rufe ich die Polizei.«
    Miriam Lovati zögert ein paar Sekunden, wahrscheinlich überlegt sie, ob und wie sie ablehnen soll oder ob sie doch zu sehr an der Kette hängt; zuletzt nimmt sie den Schlüssel, überquert die Straße.
    Er kippt den Rest seines zweiten, schon fast lauwarmen doppelten Wodkas auf einen Zug, geht hinein, um sich einen dritten einschenken zu lassen von Mario, dem Barmann, der immer noch sehr beschäftigt ist.
     
    Sie wählt immer wieder Daniel Desertis Nummer
     
    Sie wählt immer wieder Daniel Desertis Nummer; jedes Mal sagt die Piepsstimme des automatischen Anrufbeantworters: »Die von Ihnen gewünschte Rufnummer ist im Augenblick nicht erreichbar.« Sie läuft schneller, versucht, gleichmäßig zu atmen, aber es gelingt ihr nicht. An einer Kreuzung bleibt sie stehen, tippt: Ich bin auf dem Weg zu dir, drückt auf »Absenden«. Ein roter Mini Cabrio fährt mit laut aufgedrehter Bass- und Schlagzeugmusik an ihr vorbei, zwei dämliche junge Kerle aus gutem Haus schreien ihr etwas zu. Sie tut, als hörte und sähe sie nichts, überquert rasch die Straße. In ihrer Handtasche klingelt das Handy. Mit klopfendem Herzen zieht sie es heraus, aber auf dem Display blinkt der Name Stefano so aufdringlich und erpresserisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Sie beschleunigt ihren Schritt noch mehr, verfolgt von der Vorstellung von Stefano, der ungläubig Marina Recardinos Wohnung durchkämmt, ohne sie zu finden; der aus einem der großen Fenster auf die Straße schaut, nach rechts, nach links. Sie kann sein Gesicht sehen, die Gesichter seiner Kollegen und Freunde rundherum: die ratlosen Blicke, die vergeblich wiederholten Fragen. Sie lässt das Handy klingelnd und vibrierend und blinkend in die Tasche fallen und rennt auf dem immer noch heißen Gehsteig los. Sie rennt durch die beinahe menschenleeren Straßen, über rote Ampeln, gegen den Widerstand der schwülen Luft, als liefe sie am Grund eines Sees.
    Schließlich kommt sie in die Straße, in der sie erst einmal gewesen ist, vor einem Monat oder einem Jahr oder einem Leben, als sie noch nicht wusste, wer Daniel Deserti wirklich war und was sie zu ihm hinzog. Sie kann es kaum fassen, wie himmelweit ihr jetziges Bedürfnis, ihn unbedingt zu finden, von ihrer damaligen vagen Neugier entfernt ist; sie kann nicht glauben, dass sie ein derart dringendes Bedürfnis hat, ihn zu sehen, zu umarmen, ihm zu erzählen, was passiert ist, und sofort sein Verständnis zu haben, das Vibrieren seiner Stimme zu hören, das herausfordernde, warme Licht seines Blicks zu sehen, seine starken Hände zu spüren, sich durch seine Nähe getröstet zu fühlen. Die Haustür sieht ganz anders aus als vor einem Monat oder einem Jahr oder einem Leben, als sie offen gestanden hatte, aber sie ist es, sie ist es wirklich. Mit wachsender Beklemmung liest sie die Namensschildchen und die Zahlen neben den messingnen Klingelknöpfen der Sprechanlage, aber auch auf den zweiten und dritten Blick kann sie seinen Namen nirgends finden. Sie sucht einen anderen Namen oder auch eine Zahl, die ihr etwas sagen könnte, vielleicht in Verbindung mit dem Titel eines seiner Bücher oder mit etwas, das er ihr erzählt hat: nichts. Sie holt das Handy heraus, schaut auf das Display: sechs verpasste Anrufe und fünf Nachrichten. Mit Herzklopfen checkt sie die verpassten Anrufe: alle von Stefano. Sie öffnet die Nachrichten, und ihre Unruhe wächst: Die erste stammt von Stefano: Wo bist du abgeblieben? Die zweite ist von Alberto: alles deine schuld auch dass sie mich in sanremo nicht genommen haben hatte kopf woanders als du mich abserviert hast danke hast mir auch meine karriere versaut nur dass dus weißt. Die dritte, die vierte und die fünfte Nachricht sind wieder von Stefano: Chiara, ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber bitte melde dich, und: Chiara, antworte mir, und: Wo bist du?
    Von Daniel Deserti

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